Irrlehren oder Pflichtübung?

Immer mehr ÄrztInnen interessieren sich für alternative Heilmethoden, doch in der Ausbildung werden diese noch immer wenig berücksichtigt  ■ Von Matthias Fink

Bis zu achtzig Prozent der Bevölkerung wollen naturheilkundlich behandelt werden. Das ergaben demoskopische Umfragen. Die Ärzteschaft steht diesem Ansinnen inzwischen durchaus aufgeschlossen gegenüber. Die Fachzeitschrift Medical Tribune veröffentlichte im Juli eine Umfrage aus dem Raum Kassel, nach der sich zwei von drei ÄrztInnen für komplementäre Heilmethoden aussprachen. Vierzig Prozent hatten mindestens eine alternative Heilmethode in ihrem Behandlungsangebot. Für Methoden wie Akupunktur, Phytotherapie oder Homöopathie wünschte sich „mindestens die Hälfte“, daß die Kassen solche Behandlungen finanzierten. Gleichwohl schwärmten die Befragten nicht von allem, was als alternativ gilt. Frischzellen- oder Ozontherapie fand die Mehrheit „gefährlich“.

Wer naturheilkundlicher Arzt oder Ärztin werden möchte, studiert zunächst Medizin. Hat man die Approbation in der Hand, kann man eine Zusatzausbildung in Naturheilkunde oder Homöopathie erwerben. In Berlin beispielsweise finden zweimal jährlich entsprechende Kurse statt. Zu den Veranstaltern gehört die Ärztegesellschaft für Naturheilverfahren (Physiotherapie) Berlin-Brandenburg. „Die klassischen Naturverfahren bilden den Schwerpunkt“, sagt Rainer Stange, erster Vorsitzender der Gesellschaft. Von den 160 Stunden fallen 100 auf die klassischen fünf Säulen der Naturheilkunde, wie sie Sebastian Kneipp entwickelt hat: Behandlung durch Wasser und Wärme, durch Bewegung, Ernährung, mit Pflanzen sowie die Ordnungstherapie.

Attraktiv werden Schwerpunkte dadurch, daß sie schon während des Studiums schmackhaft gemacht werden. Im Pflichtlehrplan des Medizinstudiums kam die Naturheilkunde aber jahrzehntelang gar nicht vor. Erst 1989 wurde die Ärztliche Approbationsordnung entsprechend geändert. Seitdem sind im zweiten Abschnitt der ärztlichen Prüfung Fragen vorgesehen zu „Grundlagen, Möglichkeiten und Grenzen von Naturheilverfahren und Homöopathie“. Erstmals 1993 enthielten die Prüfungen diese – bundesweit einheitlichen – Fragen.

Diese Anerkennung für nichtschulmedizinische Ansätze geht manchen schon zu weit. Gerade die Homöopathie, wissenschaftlich umstritten, erregt Anstoß. 1993 verabschiedete der Fachbereichsrat Humanmedizin an der Philipps-Universität Marburg mit großer Mehrheit eine Erklärung, die sich gegen die neuen Prüfungsinhalte richtete. Homöopathie könne nicht neutral, sondern „nur als Irrlehre behandelt“ werden. „Die Erklärung war nicht gegen die Homöopathie insgesamt gerichtet, sondern speziell gegen die Aufnahme in den Fragenkatalog“, betont Klaus Walter, Pressesprecher der Uni. Allerdings: In der nächsten Novelle zur ärztlichen Approbationsordnung soll die Verpflichtung, auch Naturheilkunde abzufragen, vielleicht wieder gestrichen werden. „Zwar richtet sich das nicht gegen das Fach, denn es geht um mehr Autonomie für die Hochschulen generell“, sagt Malte Bühring, Professor für Naturheilkunde in Berlin, „doch in der augenblicklichen Konstellation an den Hochschulen würde das die Position des Faches vermutlich noch verschlechtern.“

Bisher gibt es nur zwei Lehrstühle für Naturheilkunde in Deutschland. An der Freien Universität (FU) Berlin lehrt seit Oktober 1989 Malte Bühring, in Ulm folgte inzwischen sein Kollege Thies Peters. Mit der Eingliederung in die Hochschulmedizin tat man sich in Ulm offensichtlich schwer. Im „Vademecum“, dem Verzeichnis der deutschen Lehr- und Forschungsstätten, ist der naturheilkundliche Lehrstuhl des Ulmer Fachbereichs nicht wie fast alle übrigen Teilinstitute unter dem Stichwort „Humanmedizin“ eingeordnet. Er fällt statt dessen in eine Sammelsuriumskategorie „Naturwissenschaften“. Sie umfaßt hauptsächlich Institute, deren Betätigungsfeld keinem Wissenschaftsbereich eindeutig zuzuordnen ist. Alle anderen Universitäten behelfen sich mit Lehraufträgen – wenn überhaupt. „Es gibt in Deutschland mehr medizinische Fakultäten als Lehraufträge für Naturheilkunde“, sagt Rainer Stange, der selbst in der Lehre an der FU Berlin mitwirkt. Ein ernsthaftes Interesse an Naturheilkunde sieht er bei etwa zehn bis zwanzig Prozent der Studierenden.

Die Vielfalt der Naturheilkunde mit ihrem Grenzbereich zum Heilpraktikerwesen macht es erforderlich zu trennen: Welche Teilgebiete sollen hochschulwürdig sein? Nicht jedes Kräuterbüchlein soll in den Geruch wissenschaftlicher Seriosität aufrücken. Praxis und Lehre der Naturheilkunde stellen unterschiedliche Anforderungen. „Viele Praktiker unserer Richtung sind weniger an empirischen Überprüfungen interessiert“, schätzt Stange. Auch gebe es viele „Monomethodiker“, die nur auf ein Behandlungskonzept schwörten. Dabei sind die Ansätze sehr vielfältig. „Man könnte in Deutschland etwa 50 Heilmethoden aufzählen, die sich als alternativ einordnen lassen.“