■ Buchtip
: Mythos und Moral

Verursacht Streß Grippe? Unterdrückt ein Krebspatient nur seine sexuellen Bedürfnisse? Kann der Patient mit dem richtigen Ernährungsplan seiner Krankheit erfolgreich zu Leibe rücken? Sind wir am Ende alle selbst verantwortlich für unsere Malaisen? Die alternative Medizin weist dem einzelnen eine große Verantwortung für seine Krankheiten zu – und läuft damit Gefahr, eine moralisierende Kontrolle zur Weltanschauung zu erheben. Das zumindest meint die britische Journalistin Rosalind Coward, deren provozierendes Buch „Nur Natur? Die Mythen der Naturmedizin“ jetzt auch in Deutschland erschienen ist. Coward geht der Frage nach, warum die Alternativmedizin seit geraumer Zeit so beliebt ist. Differenziert hinterfragt sie die zentralen Begriffe, die die unterschiedlichen Therapien verbinden: wie Selbstverantwortung, Natur und Ganzheitlichkeit. Dabei stößt sie auf Mythen, problematische Pauschalisierungen und vage ideologische Bedeutungen. Die Attraktivität der alternativen Medizin ist für Coward nicht nur in einem Versagen der Schulmedizin zu suchen, sondern ebenso in der „neuen Mythologie“, mit der diese Heilmethoden „Natur und Gesundheit umgeben“. Die Autorin begreift die alternative Gesundheitsbewegung als Vorreiter und Symptom einer gewandelten Einstellung zu Körper und Gesundheit, als Hort diffuser, spiritueller Sehnsüchte und Ausdruck des Gefühls einer gefährlichen gesellschaftlichen Fehlentwicklung, die meist in „pauschale Polarisierungen“ zwischen Moderne und Natur abgleite. Die „Ideologie einer neuen Körperreligion“ habe dabei Berührungspunkte mit konservativen Weltanschauungen. adi

Rosalind Coward: „Nur Natur? Die Mythen der Alternativmedizin. Eine Streitschrift“, Antje Kunstmann Verlag, München 1995, 239 Seiten, 29,80 DM.