■ Uni revisited
: Kant gemobbt. Paranoid gefoppt.

Neulich war ich wieder an „meinem“ alten Institut, das wir während des Uni-Streiks 1988/89 für ein paar Monate besetzt hatten, um die Streikforderungen zu unterstützen, autonome Seminare durchzuführen („Texte der RAF“) und die Vereinzelung unter den Studenten aufzubrechen, wie man so sagt. An den Wänden des Schnellbaus waren noch ein paar Streikreste übriggeblieben. Eine in Rosa auf Blau gesprühte Frage: „Sterben – aber wie?“; ein Ufo – das Raumschiff Uni – das dahin flog, wo's besser sein mag; und ebenfalls in Rosa und Schreibschrift ein Zitat von Rolf-Dieter Brinkmann: „Wer sagt, daß das hier Leben ist? Ich gehe in ein anderes Blau!“

Da war zum Beispiel die Studentin, die in jedem Seminar, das sie besuchte, unvermittelt damit anfing, feministische Monologe in Lacanianischer Manier zu halten, der enervierende Derridist im Cowboyoutfit, der ab und an laut und wütend wurde, die Rosa-von- Praunheim-Schauspielerin, die bei den Religionswissenschaftlern „Ficken für den Frieden“ propagierte, oder der Pfarrerssohn, dessen irren Redestrom niemand stoppen konnte. Sie liefern ihre Performances ab und gehen dann wieder. Außer der Lacanianerin.

In der Sitzung vor Semesterende begann sie plötzlich zu weinen aus Angst vor der vorlesungsfreien Zeit. Sie beschimpfte den Dozenten, der sich weigerte, in den Ferien weiterzuunterrichten. Sie redete mit keinem. Die Uni schien der einzige Ort zu sein, an dem sie soziale Kontakte pflegte. Sie monologisierte in den Raum, sobald sich die Möglichkeit bot, Lacan oder Derrida ins Spiel zu bringen. Ansonsten schwieg nicht nur sie. Die meisten Philosophiestudenten sagten seit Jahren kein Wort.

Die intellektuelle und die soziale Kompetenz des Philosophiestudenten klaffe weit auseinander, erklärte mir U., ein ehemaliger „Geliebter der Wahrheit“, den ich neulich zufällig auf einem Kinderspielplatz traf. Das Problem sei, daß die Konflikte sich vor allem auf horizontaler Ebene abspielten. Will heißen: Die Studenten würden sich gegenseitig fertigmachen. Einige Philosophiestudenten werden aber auch alleine verrückt. H. zum Beispiel, der Kant-Spezialist, verlief sich irgendwann in den tausend Kammern des Wissens. Er überkritisierte seine Urteilskraft, pflegte kaum noch soziale Kontakte und ließ seine Wohnung versiffen. Dinge des täglichen Gebrauchs begannen sich plötzlich vor ihm zu verstecken, derweil er mit ungeheurem Arbeitseifer versuchte, die kantische Philosophie mit der Astrologie zu verbinden.

Nach einem Telefonanruf seiner Mutter, die ihn bat, über Weihnachten nach Hause zu kommen, begann er dann völlig durchzudrehen. Ein paar Tage streifte er schlaflos durch die Stadt. Dann brach er in ein paar Kirchen ein, „um drinnen einen Rosenkranz zu beten“. Zu seinem Glück wurde er nicht von der Polizei, sondern von einem evangelischen Pfarrer erwischt, der ihm ärztliche Behandlung empfahl.

Am Rande einer Recherche, die ich für das Uni-Special von Konkret unternahm, traf ich schließlich C., einen „erfolgreichen jungen Wissenschaftler“, Anfang dreißig, der fünf Jahre lang im Hamburger Philosophenturm als Assistent gearbeitet hatte und inzwischen wieder ganz gut und woanders im Rennen ist. C. klagte darüber, an der Uni gemobbt worden zu sein. Wir trafen uns einen Abend lang am Küchentisch seiner Wohnung, tranken Wein und rauchten sein letztes Haschisch auf. „Mobbing ist unsichtbar“, sagte er. „Mobbing ist: Du kommst rein, und das Gespräch hört auf.“ Beim Mobbing gehe es darum, „das Innen und Außen ganz genau zu markieren“. Mobbing sei auch, nicht eingeladen zu werden oder die Art der Anrede. Also wer wen duze oder sieze oder wer wann vom Sie zum Du übergehe und mit dem Du seinen Aufstieg dokumentiere. „Ich war am Ende der einzige, dem unser Professor nie das Du angeboten hatte!“ Das habe, so meinte er weiter, alles damit zu tun, daß die sozialen Beziehungen in der Uni „unglaublich privatisiert“ sind, und diese Privatheit regle eben, was innen ist und was draußen bleibe. „Mir hat zum Beispiel in den ganzen Jahren niemals jemand auch nur einen Hinweis gegeben auf einen Kongreß, an dem ich hätte teilnehmen können. Mobbing ist unsichtbar“, schloß er, „vielleicht versteht man das gar nicht, wenn man nicht selbst gemobbt wird!“

So ganz zufrieden war ich mit unserem Gespräch nicht. Aber die tiefen Verletzungen des Alltags wirken auf den Außenstehenden wohl selten besonders spektakulär. Wie fragil und bedroht diese sich uns darbietende Normalität ist, wurde mir in den nächsten Tagen deutlich. Da kam zunächst eine Postkarte, in der er mich bat, in dem Artikel sein Geschlecht zu verändern: „Dann wäre ich noch viel, viel anonymer.“ Zwei Tage später rief er aus Polen an und sprach lange und aufgeregt mit meinem Anrufbeantworter. Ich solle sein Geschlecht doch nicht „auf weiblich“ machen – das träfe nämlich sonst die B. Statt dessen solle ich ihn in S. umbenennen, und ich solle „die Sache“ nach München verlegen. In Polen sei übrigens schönes Wetter. Detlef Kuhlbrodt