: Einfarbig und einfallslos
■ Berliner SPD macht Wahlkampf ohne Koalitionsaussage
An der Spitzenkandidatin ist alles rot. Als wolle sie auch äußerlich nicht den geringsten Anlaß geben, über mögliche Koalitionspartner zu spekulieren, trägt Ingrid Stahmer zum Wahlkampfauftakt der Berliner SPD Schuhe, Kleid, Hut und Lippenstift im gleichen Farbton. Ihrem Bundesvorsitzenden Rudolf Scharping, der sich zur Stadttour bei seiner Berliner Genossin eingefunden hat, rinnt der Schweiß über die Stirn. Von der Ladefläche eines Kleintransporters herab verkünden beide einer Handvoll Zuhörer, daß die SPD bei den Wahlen am 22. Oktober „stärkste Partei“ werden will.
Das Motto der Sozialdemokraten laute „Gemeinsam für Berlin“. Denn die SPD führe als einzige die Menschen in Ost und West zusammen, sagt ein Scharping, der bei seinen Auftritten an diesem Wochenende merkwürdig distanziert wirkt. Es ist, als glaubte er selbst nicht an einen Wahlsieg. Und die jüngsten Umfragen würden ihm da auch recht geben. Danach würde die CDU bei 36 Prozent, die SPD bei 31 Prozent liegen. Bündnis 90/Die Grünen würden 15 Prozent und die PDS 12 Prozent wählen. Die FDP wäre mit 2 Prozent nicht mehr im Landtag vertreten.
Es ist drei Monate her, daß in Nordrhein-Westfalen ein sozialdemokratischer Ministerpräsident Rau die absolute Mehrheit verlor – nach einem unpolitisch geführten Wahlkampf, in dem jede Koalitionsaussage vermieden wurde. Dennoch hält Spitzenkandidatin Stahmer an dieser Uneindeutigkeit fest. Einen inhaltlichen Wahlkampf will sie führen, doch so wie sie ihn führt, wird kein Profil erkennbar: Auf dem Berliner Wahlprogramm landete mit den Worten „Sicher in die Zukunft“ ein Slogan der CDU aus dem letzten Bundestagswahlkampf – niemand hatte den Fehler bemerkt.
Ängstlich vermeidet Stahmer eine Koalitionsaussage zugunsten von CDU oder Bündnisgrünen, obwohl sie weiß, daß die SPD auch nach dem Wahlsonntag im Oktober nicht alleine regieren kann. Ihre mangelnde Entschiedenheit, eine klare Aussage zu treffen, entspricht der Situation der SPD, die in dieser Frage genau in der Mitte gespalten ist. Besonders die Mitglieder aus dem Ostteil fühlen sich mit einer CDU wohl, die immer mal wieder Stimmung gegen vermeintlich Kriminelle sowie Flüchtlinge macht und in der Verkehrspolitik auf das Auto setzt.
Was will die Frau also anders machen als der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU), den sie herausfordert. Wenn Stahmer findet, daß „nach Louise Schroeder – und das ist schon fast fünfzig Jahre her – Berlin von einer Frau regiert werden muß“, ist das mehr Floskel als Ausweis einer feministischen Position. Die Kandidatin ist Sozialpolitikerin, auf diesem Feld ist sie kompetent und engagiert, doch reicht das, um Regierende Bürgermeisterin zu werden?
Mit ihrer parteiinternen Urwahl, bei der sie im Februar den ehemaligen Regierenden Bürgermeister Walter Momper aus dem Feld schlug, machte Stahmer Schlagzeilen. Dann hörte man monatelang fast nichts mehr von ihr, bis sie Ende vorletzter Woche mit einer Lebensmittelvergiftung ins Krankenhaus mußte – sie hatte an einem Imbiß eine schlechte Wurst gegessen. Erst jetzt tauchte die Frau wieder in Überschriften auf. Die langanhaltende Funkstille hatte bereits Folgen. Diepgen hatte Stahmer auf der Beliebtheitsskala weit hinter sich lassen können.
Die Partei wird angesichts des mangelnden Profils ihrer Spitzenkandidatin ungeduldig. Ohne ihr in den Rücken fallen zu wollen, forderten Momper und Bausenator Wolfgang Nagel bereits vor zwei Monaten eine Aussage für den Wechsel. Momper nutzt eine von ihm organisierte Wählerinitiative derzeit nur noch für ein Ziel: Rot- Grün. Selbst Scharping, der im Bundestagswahlkampf ebenfalls eine Koalitionsaussage vermieden hatte, ist seit der nordrhein-westfälischen Landtagswahl grünenfreundlicher geworden. Und als er am Samstag in der Berliner Landesgeschäftsstelle die SPD an das weltweite Computernetz Internet schaltet, ist er „froh“, daß die SPD mit den Bündnisgrünen in Fragen der Informationsgesellschaft zusammenarbeite. In Berlin halte er Rot-Grün für die „realistischere Möglichkeit“. Für Koalitionsaussagen aber sei die Spitzenkandidatin zuständig. Dirk Wildt
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