■ Da kocht das Thermometer: sieben Wochen Sonne satt. England rationiert Wasser, in den Niederlanden wackeln die Deiche. Hierzulande legen Wasserwerfer Infusionen an verdorrte Bäume. Und die Hitze treibt die Sterberate steil nach oben.
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Da kocht das Thermometer: sieben Wochen Sonne satt. England rationiert Wasser, in den Niederlanden wackeln die Deiche. Hierzulande legen Wasserwerfer Infusionen an verdorrte Bäume. Und die Hitze treibt die Sterberate steil nach oben.

Alle Jahre wieder: Jahrhundertsommer

Meinhard Giebel muß weit zurückblättern. Im 18. Jahrhundert angekommen, wird er endlich fündig: Damals, zwischen 1790 und 1801, „hatten wir schon mal neun Jahre in Folge, die viel zu warm waren“, sagt der Mann vom Deutschen Wetterdienst. Seine Londoner Kollegen sind bereits ins 17. Jahrhundert vorgestoßen. Sie riefen jetzt den „drittheißesten Sommer seit 1659“ aus, dem Beginn der Temperaturmessungen.

Adolf Schmitt, Chef der Moselwinzer, findet dagegen „seit Menschengedenken“ keine Parallele. Die deutschen Weinbauer stehen vor ihrem achten guten Jahrgang hintereinander. 1987 kam die letzte „kleine“ Qualität in die Flasche. Seitdem hagelte es Spitzenweine. Und schon wieder melden die Winzer von Rhein, Main und Mosel einen „überdurchschnittlichen Vegetationsstand“.

Ob die Klimaverschiebung bei dieser ungewöhnlichen Häufung zu warmer Jahre eine Rolle spielt, „ist eine Frage, die ich mir oft stelle“, gibt sich Schmitt nachdenklich. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, daß an der Mosel mobile Brikettöfen im Frühsommer zwischen die Rebzeilen gefahren wurden, um den Riesling vorm Erfrieren zu schützen. Schmitt: „Wir haben alles mögliche angezündet, wenn die Kälte kam.“ Inzwischen klagen die Winzer eher über Trockenschäden. Und vor lauter Oechslegraden geraten viele Weine zu fett und zu alkoholisch – spanische Zustände.

An Spanien fühlt sich auch Biobauer Josef Jacobi erinnert. Sieben Wochen Hitze ohne Niederschläge und eine explosionsartige Reifung brachten seinem Hof nördlich von Kassel am Rande der Warburger Börde ungewohnte Nöte. Roggen, Dinkel, Weizen, Hafer, Braugerste, Erbsen und Ackerbohnen – was sonst in lockerer Folge binnen sechs Wochen abgeerntet wird, war jetzt „alles gleichzeitig reif“.

Und zum ersten Mal in seinem Bauernleben mußte Jacobi sein Getreide kühlen. Der Weizen war mit 33 Grad so dampfend heiß, daß sich im Speicher nachts Kondenswasser bildete. „Da mußten wir erst mal kalte Luft durchblasen.“ Ansonsten: Hitzestreß und kräftige Ertragseinbußen vor allem beim Getreide. Auch der Klee mickert, das Gras konnte nur einmal geschnitten werden, und „die Futterrüben schlafen“. Bei 30 Grad Dauerbelastung haben sie den Stoffwechsel eingestellt.

Verständlich. Seit sieben Wochen liegen weite Teile Europas im Hitzestau. Der abermalige Jahrhundertsommer 95 hatte schon im Juli eingesetzt. Mal war es ein „atlantischer Höhentrog“, mal eine „mitteleuropäische Hochdruckbrücke“. Das Resultat war immer dasselbe: Eine „stabile Wärmesituation“ und Sonne satt. Mit bis zu 332 Sonnenstunden (Cottbus) wurde der langjährige Mittelwert im Juli vielerorts um mehr als 50 Prozent übertroffen. Die 36-Grad- Marke fiel reihenweise. Der August machte so weiter.

So angenehm Sonnenschein und Sommerhitze sein können, inzwischen blicken immer mehr Zeitgenossen sorgenvoll auf die Fieberkurve der Erde. Die weltweit acht heißesten Jahre seit Beginn der Aufzeichnungen lagen alle in der Zeit von 1980 bis heute. 1990 war das heißeste Jahr überhaupt, 1991 das drittheißeste, 1993 steht an sechster Stelle. Die Hitze schlägt manchem aufs Gemüt: Der Stuttgarter Telefonseelsorger Wilfried Weber registriert „erschreckend viele“ Anrufer, die von schweren Sommerdepressionen und Suizidwünschen geplagt werden. Und während die Polizei in Mecklenburg ihre Wasserwerfer grob mißbräuchlich vertrockneten Pflanzen widmen, hat an der Nordsee ein großes Vogelsterben eingesetzt. Die Hitze hat den Wasserstand der Elbe soweit gedrückt, daß Botulismus-Bakterien im Uferschlamm frei wurden.

Und das Wetter spielt weiter verrückt. Während Süditalien heftige Regengüsse meldet und Marokko verheerende Überschwemmungen, hat die extreme Trockenheit in den Niederlanden die Standfestigkeit der Deiche bedroht. Die Grasmatten, die den Deich vor Erosion schützen sollen, sind versteppt.

Ganz andere Sorgen haben Medizinmeteorologen, die den gesundheitlichen Folgen der Hitze auf der Spur sind. Der Freiburger Forscher Gerd Jendritzky hat 1,3 Millionen Todesfälle ausgewertet und auf Wetter- und Klimaeinflüsse abgeklopft. Tenor: Im Winter sterben zwar mehr Menschen als im Sommer, aber die Hitzeperioden fordern ihren Tribut. „Es ist sehr, sehr eindrucksvoll, wie mit zunehmender Wärmebelastung die Mortalität zunimmt.“ Die Behaglichkeitszone mit niedrigsten Todeszahlen liegt zwischen 20 und 22 Grad. Wenn die Temperaturen steigen und gleichzeitig der Wind fehlt, geht die Sterberate kräftig hoch. Hitzewellen fordern 10 bis 15 Prozent mehr Tote als üblich, analysiert Jendritzky. Dann seien vor allem Alte und Kranke mit der „thermophysiologischen Anpassung“ überfordert.

Entscheidend: Es sterben nicht nur Personen, die ohnehin eine reduzierte Lebenserwartung haben. Sonst müßte die „Übersterblichkeit“ in Hitzeperioden durch eine „Mindersterblichkeit“ in der Zeit danach ausgeglichen werden. Das ist aber nur zum Teil der Fall.

Noch dramatischere Zahlen ermittelten die Forscher des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. In ihrer Studie „Klimawandel in Berlin und Brandenburg“, die im September vorgestellt wird, untersuchten sie auch die Sterblichkeit im Supersommer 1994. „Die lange Hitzeperiode ohne wesentliche Abkühlung während der Nacht führte zu extrem hohen Mortalitätsraten.“ Bei den Männern lag die Todesrate „40 bis 50 Prozent über dem Durchschnitt“, bei den Frauen „erreichte sie mehr als das Doppelte durchschnittlicher Werte“. Während im Jahreslauf in Berlin täglich 100 bis 120 Menschen sterben, waren es an Hitzetagen bis zu 260.

So ist die Bilanz des Jahrhundertsommers gedämpft, auch wenn Sonnenanbeter, Eisverkäufer und Mineralwasserfirmen triumphieren. Der Hamburger Marktführer Langnese registrierte 1994 mit einem Pro-Kopf-Verzehr von 8,5 Litern Eis eine neue Bestmarke, die dieses Jahr nochmals übertroffen werden dürfte. Allerdings, warnt Langnese-Sprecherin Ute Siefert, sollten die Temperaturen nicht zu hoch liegen. Bei über 30 Grad sind die Leute selbst zum Eisessen zu schlapp. Siefert: „Die wollen dann nur noch Flüssigkeit aufnehmen.“ Manfred Kriener