Schutz, Frieden, Tod und Trost

■ Von Jenseitsfiguren träumend: Isolde Ohlbaum hat steinerne Engel auf europäischen Friedhöfen fotografiert

Als Kind träumt man von Engeln mit großen, weichen Federflügeln, wallenden Gewändern, goldenen Litzen und Borten. Und man ist sich in der Erinnerung sicher, daß auch über einem selbst ein Engel schwebte, der seine Flügel schützend über einen hielt.

Die Münchner Fotografin Isolde Ohlbaum, die sich vor allem durch ihre zahlreichen Portraits internationaler Künstler und Schriftsteller einen Namen gemacht hat, setzt sich in ihrem neuesten Fotoband mit der geheimnisvollen Lichtfigur „Engel“ auseinander. „Wie kein anderes Wesen“, so schreibt sie in ihrer kurzen Einleitung, „gibt der Engel Raum für Phantasie, Träume, Sehnsüchte, Wünsche und Projektionen.“ Mit der Kamera auf der Suche nach Jenseitsfiguren, hat sich Ohlbaum quer durch die Kulturgeschichte von Städten wie Berlin, Augsburg, Wien, Budapest, Bergamo, Turin, Rom, Florenz, Paris, Nizza und Barcelona bewegt.

Engel erscheinen dem Menschen zumeist an der Grenze zwischen Leben und Tod, was von der Bibel bis hin zu Luther hinreichend überliefert ist. Über die Entstehung von Engeln, so schreibt Isolde Ohlbaum, schweigt sich die Bibel jedoch beharrlich aus. Im Alten Testament erfahren wir zumindest etwas über den Ursprung des Wortes Engel. In der Schöpfungsgeschichte ist von den bene elohim – den Göttersöhnen – die Rede, geflügelten Seraphim und Cherubim, die „vorn gleich einem Menschen und zur rechten Seite gleich einem Löwen bei allen vieren und hinten gleich einem Adler bei allen vieren“ (Ezechiel 10,14) zum himmlischen Hofstaat gehörten. Doch diese frühen Engelsdarstellungen verloren im Laufe der Jahrhunderte ihre Bedrohlichkeit. Sie wurden von Bildhauern und Malern vermenschlicht, erotisiert und puppenhaft verniedlicht.

Die hohe Zeit der Engel war im Mittelalter. Dort wurden Millionen von Engeln in Hierarchien eingeteilt, und man zerbrach sich den Kopf darüber, wieviel tausend Engel wohl auf einer Nadelspitze Platz fänden. In der Spätgotik und Renaissance ließen Maler ganze Heerscharen von idealisiert jauchzenden und posaunenden Himmelsreitern die Altarzonen der Kirchen umschweben. Im Zeitalter des Barock und Rokoko zierten mit Vorliebe halbnackte und dicklich-knackige Putten die Gemälde und Fresken der Kirchen.

Auf ihren Streifzügen durch Straßen, Plätze, Parks und Friedhöfe fotografierte Isolde Ohlbaum, was sie an in Stein gemeißelten Lichtfiguren fand. Ihre Engelbilder repräsentieren dabei ein kunstgeschichtliches Repertoire von androgynen und weiblichen Engeln, die als Schutzengel, Friedensengel, Todesengel, Trostengel, gefallene Engel, Engel der Finsternis und Bübchenengel ganz unterschiedliche künstlerische Interpretationen zeigen.

Rom als heimliche Hochburg der Engel, scheint Isolde Ohlbaum besonders inspiriert zu haben. Dort, auf dem Friedhof der Dichter, Denker und Künstler – dem „Testaccio“ –, fotografierte Isolde Ohlbaum die Statue des vornübergebeugten „Angel of Grief“ auf dem Grab des amerikanischen Bildhauers und Dichters W. W. Story und seiner Frau Emelyn und den wunderbar bäuchlings liegenden Engel mit der angebrochenen Nase. An diesem auratischen Ort fällt die üppige Präsenz der Himmelsreiter auf, die die Ablagerungen der Zeitalter auf ihren Schultern zu tragen scheinen, während sie mit frischen Blumen dasitzen, die ihnen Friedhofsbesucher in ihre steinernen Hände gelegt haben. Isolde Ohlbaums Fotografien lassen die rätselhafte Ungreifbarkeit dieser himmlischen Wesen spürbar werden.

Nicht zufällig erscheinen in Ohlbaums Buch als begleitende Textsammlung vorwiegend Schriftsteller und Lyriker aus der Literatur des 20. Jahrhunderts, in der das Engelsmotiv eine breite Rezeption gefunden hat. Engel als Metapher einer unbegreiflich höheren Wirklichkeit und als Ausdruck einer Epiphanie des Göttlichen erschließen sich über die Gedichte aus dem Zyklus „Sobre Los Angeles“ des argentinischen Lyrikers Rafael Alberti oder auch die „Duineser Elegien“ von Rainer Maria Rilke, in denen der Engel seine klassische Funktion als Bote völlig aufgegeben hat. In der Lyrik von Rose Ausländer, Else Lasker-Schüler und Nelly Sachs werden die Grenzgänger zwischen den Welten zu zentralen Metaphern für Liebe und Transzendenz des Alltags. Den Engeln der Moderne ist eines gemeinsam: Sie haben trotz ihrer Flügel nicht mehr den Überblick, sondern sind auf der Suche wie die Menschen auch. Karola Braun Wanke

Isolde Ohlbaum: „Aus Licht und Schatten – Engelbilder“. Knesebeck-Verlag, 128 DM