"Es ist ein Fortschritt"

■ Chris Myant, Sprecher der "Kommission für die Gleichbehandlung ethnischer Minderheiten", relativiert Horrormeldungen

taz: Die Zahl rassistisch motivierter Vorfälle in Großbritannien hat sich seit 1988 bis 1994 fast verdoppelt, viele Menschen sind in den vergangenen zwei Jahren auf Grund rassistischer Gewaltakte ums Leben gekommen und trotzdem hört man, daß sich die Lage generell verbessert hätte. Wie paßt das zusammen?

Chris Myant: Nachdem die Londoner Stadtbezirke Brixton und Tottenham vor zehn Jahren in Flammen aufgingen, wurden sich die Verantwortlichen mehrheitlich darüber bewußt, daß London zu einem zweiten Los Angeles werden könnte. Der soziale Hintergrund dafür existiert bis heute: Jeder fünfte Londoner gehört einer ethnischen Minderheit an. Unter ihnen ist die Arbeitslosigkeit höher, ihre Wohnverhältnisse sind beengter, der Lebensstandard ist niedriger. Andererseits – im Unterschied zu vielen anderen Städten in Europa, zum Beispiel Madrid oder Rom – sind die Minderheiten in London anerkannter Teil des öffentlichen Lebens. Sie sind nicht illegal im Land, hatten von Anfang an das Recht zu wählen und verfügen wie die Briten über alle bürgerlichen Rechte. Das ist ein sehr wichtiger Fakt und erleichterte in den letzten Jahren wesentlich die praktische Durchsetzung ihrer Rechte. Erhebungen von 1991 zeigen, daß inzwischen ein Viertel der schwarzen Bevölkerung in qualifizierten Berufen beschäftigt ist. Zudem gibt es heute sechs nicht- weiße Parlamentsmitglieder in Westminster. Das ist zwar immer noch wenig, aber doch ein Fortschritt zu 1985, als es nicht einen Abgeordneten gab. Auf der lokalen Ebene ist die Zahl der Stadträte im Vergleich zu 1986 um 75 Prozent gestiegen. Und auch in der Zusammenarbeit mit der Polizei hat sich einiges getan. Einmal, da mehr Jugendliche von ethnischen Minderheiten inzwischen der Polizei beitreten, und weil auch einiges in der Ausbildung weißer Polizisten getan wurde. Junge Polizisten nehmen an einem sechswöchigen Kurs zur Rassismus-Problematik teil. Programmbestandteil ist unter anderem ein Wochenende in einer Familie, die zu den ethnischen Minderheiten gehört. Viele Polizisten erfahren dort zum ersten Mal was es heißt, rassistischen Übergriffen ausgesetzt zu sein. Vieles liegt aber gerade bei der Polizei noch im argen. Vieles hat sich aber auch verbessert.

Gibt es auch im alltäglichen Zusammenleben positive Veränderungen?

Ja, das deutlichste Beispiel dafür ist die steigende Zahl gemischter Ehen. Die Zahl der Eheschließungen zwischen Weißen und Schwarzen hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Eine vor zehn Jahren noch unvorstellbare Tatsache.

Vor allem das Fernsehen spielt dabei eine ganz wichtige Rolle. Das Zusammensein und Miteinander aller Rassen wird in die Wohnzimmer der Briten übertragen: Die Nachrichten werden allabendlich von Trevor Phillips, einem Schwarzen, gesprochen, im Kinderfernsehen moderieren Jungen und Mädchen von ethnischen Minderheiten die Sendungen und selbst beim englischen Pendant der Sendung „Herzblatt“ ist es eine Selbstverständlichkeit, daß blonde, rotwangige, blauäugige Mädchen mit schwarzen Jungen ihre Traumreise antreten. Und die ganze Nation wartet gespannt auf den nächsten Sendetermin und hofft, daß die gemeinsame Woche der Anfang einer großen Romanze wird. Nicht einen Moment der Peinlichkeit, nicht einen Augenblick des Zögerns. Ich glaube, so etwas gibt es in dieser Breite in keinem anderen Land.

Hat dazu auch die Haltung und das Verhalten der ethnischen Minderheiten selbst beigetragen?

Das ist ein entscheidender Punkt. Das Selbstvertrauen der ethnischen Minderheiten ist in den letzten Jahren sehr gestiegen. Dieses oftmals zu beobachtende Verhalten sich klein zu machen, ist vor allem bei der zweiten Generation der Immigranten verschwunden. Wenn früher ihren Eltern gesagt wurde, verpiß dich aus dieser Straße, dann haben sie diese Straße eben gemieden. Wenn sie für eine Arbeit abgelehnt wurden, weil sie Pakistani sind, beugten sie sich dieser Entscheidung. Heute lehnt sich vor allem die junge Generation dagegen auf. Sie kennen ganz genau ihre Rechte und setzen sie gerichtlich durch und notfalls auch mit Gewalt. Deshalb haben sich in letzter Zeit auch die Übergriffe auf Weiße erhöht. Die junge Generation läßt sich nichts mehr gefallen. Vor allem in London ist dieses Problem besonders kraß. Denn etwa die Hälfte der Briten, deren Vorfahren aus den ehemaligen Kolonien und aus dem Mutterland einwanderten, leben in London. Es sollen 37 Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen ethnischen Wurzeln sein – ein Spektrum, das man in keiner anderen Stadt Europas noch einmal findet.

Diese Vielfalt hat aus London doch eine multikulturelle Metropole gemacht ...

Richtig. Großbritannien war doch notorisch verrufen für sein schreckliches Essen. Noch vor 30 Jahren konnte man sich hier als Nichtengländer kaum ernähren. Jetzt gibt es an jeder Ecke einen Inder, einen Chinesen und Mexikaner. Wenn die Pubs schon lange geschlossen haben, bekommt man um 1.00 Uhr morgens beim Italiener immer noch etwas. Und nicht nur das. Die Ausländer haben wesentliche Lebensgewohnheiten der Briten verändert. Während ich früher nur von neun bis fünf mein Brot kaufen konnte, kann ich das heute rund um die Uhr, sonnabends und sonntags. Sie arbeiten so hart, wie es Engländer nicht tun würden. Es sind größtenteils Inder, die in den 60er Jahren aus Ostafrika, vor allem von Idi Amin, vertrieben wurden und nach Großbritannien kamen. Sie dominieren auch die Zeitungsläden. Gar nicht zu sprechen von ihrem Beitrag in der modernen Musik und der Erfolg der Londoner Fußballclubs hängt total von den schwarzen Sportlern ab.

In den Medien werden aber immer wieder nur die fürchterlichen Probleme dargestellt. Wo bleibt die positive Seite der Einwanderung?

Es wird in der Tat immer der Eindruck vermittelt, daß die Insel von Ausländern überrannt wird, die sich alle am britischen Sozialstaat laben. Dabei sind es insgesamt nur 6 Prozent der Bevölkerung, die einen sehr wesentlichen ökonomischen, sozialen und kulturellen Beitrag im Land leisten. Als Kommission haben wird dieses Darstellungsproblem erkannt und werden unsere PR-Kampagne 1996 verstärkt auf den Beitrag der ethnischen Minderheiten im Land konzentrieren. Interview: Kathrin Singer