Der Mythos von London verblaßt

Londons Größe, Weltoffenheit und kulturelle Toleranz ging mit dem Empire unter. Heute sind die Einwanderungsbedingungen härter geworden. Es mangelt an Jobs und Perspektiven  ■ Von Ralf Sotscheck

Kilburn High Street in London, morgens um sechs: Am Straßenrand stehen fünf irische Arbeitsemigranten, die auf den Lieferwagen warten, der sie zu einer Baustelle bringen soll. Es sind Tagelöhner, die montags mit dem „Frühstücksflug“ aus Knock im Westen Irlands herüberkommen und freitags wieder in die Heimat zurückfliegen. Während der Woche wohnen sie in billigen Wohnheimen mit Etagenbetten.

Seit 400 Jahren wandern Iren nach England aus. Waren es meist blanke Not und Hunger, die sie zur Emigration zwangen, so ist es seit den achtziger Jahren die Hoffnung auf eine akademische Karriere, die zunehmend Hochschulabsolventen anlockt – zumal Jobs für Ungelernte auch in England inzwischen dünn gesät sind. „Mein Urgroßvater war ein Navvy“, sagt Mick Mulcahy aus Sligo, „er arbeitete beim britischen Eisenbahnbau. Es waren immer die schwersten und gefährlichsten Jobs, bei denen man die Iren eingesetzt hat. Die Lebenserwartung eines Navvy lag bei 40 Jahren.“ Micks Urgroßvater starb mit 50 Jahren an einer Lungenentzündung.

Zwar ist London keine „irische“ Stadt, wie es Boston oder Liverpool sind, doch gibt es außer Dublin wohl keine Stadt, in der mehr Iren wohnen. Diskriminierung gehörte von jeher zum Alltag der Immigranten, in vielen Kneipen hatten sie keinen Zutritt, und an manch einem Fabriktor hing ein Schild: „Schwarze und Iren brauchen sich gar nicht erst zu bewerben.“ Die „Kommission für Gleichberechtigung der Rassen“ fordert sogar, „irisch“ als eine Kategorie der Programme für ethnische Minderheiten anzuerkennen. Chris Myant vom Untersuchungszentrum für ethnische Beziehungen sagt: „Wir wissen, daß Iren unter Rassendiskriminierung leiden, aber wir wissen nicht, wie groß dieses Problem für sie ist im Vergleich zu schwarzen oder asiatischen Menschen.“

Der 44jährige Mick Mulcahy war schon als 15jähriger vom „Swinging London“ fasziniert. „Für mich stand damals fest, daß ich eines Tages in London leben würde“, sagt er. „Jetzt bin ich Pendler, und der Mythos der Stadt verblaßt immer mehr.“ Das Time Magazine hatte 1966 ein übertriebenes, aber im Handumdrehen legendäres Bild vom „Swinging London“ gemalt. Die Beatles und die Rolling Stones lebten in der Stadt, und Carnaby Street hieß „die Welt willkommen“, wie die goldenen Lettern auf dem Torbogen am Kopf der Straße verkündeten. Heute steht auf einem schlichten schwarzweißen Stahltor: „Willkommen in der Carnaby Street.“

Der Niedergang der in zahlreichen Liedern verewigten Einkaufsstraße ist durchaus symbolisch für die englische Hauptstadt. Blickte der Time-Artikel noch optimistisch in die Zukunft, so blickt man heute vor allem in die Vergangenheit. Es waren die Handelsbeziehungen mit den Außenposten des britischen Kolonialreichs, die London zu einer der wichtigsten Städte der Welt machten. Entsprechend war die Stadt vom Zerfall des „British Empire“ besonders stark betroffen. Zwischen 1966 und 1976 sind eine halbe Million Stellen in der Industrie vernichtet worden – zwei Fünftel der Gesamtzahl. Die Arbeitslosigkeit hat inzwischen 17 Prozent überschritten, in vielen Innenstadtbezirken liegt sie sogar bei 25 Prozent.

Jeder achte Job hängt vom Tourismus ab, und die Tendenz ist steigend: Schon in fünf Jahren werden 16 Prozent aller Londoner Arbeitsplätze in diesem Bereich angesiedelt sein. Im allgemeinen sind diese Jobs schlecht bezahlt und saisonabhängig. Wären nicht die Trinkgelder, würde man mit dem Sozialhilfesatz kaum schlechter fahren. Die Verantwortlichen greifen nach dem Fremdenverkehr wie nach einem Strohhalm. 22 Millionen BesucherInnen kommen jedes Jahr nach London, und man jagt sie zu den Symbolen einer großen Vergangenheit: dem Tower, dem Buckingham-Palast, Trafalgar Square mit seiner Nelson-Säule, der Kathedrale von St. Paul. Der Reisejournalist Eddie Holt spricht gar von einem „Disneyland des verlorenen britischen Imperiums“.

The Strand, die einst als schönste Straße Europas galt, ist ein weiteres Symbol für den wirtschaftlichen Niedergang: Wenn abends die Geschäfte schließen, kommen die Obdachlosen, um sich vor den überdachten Ladeneingängen ein trockenes Plätzchen für die Nacht zu sichern. Ihre Zahl hat sich unter Margaret Thatchers Herrschaft von 8.000 auf 80.000 verzehnfacht. Der kurze Boom, als die neureichen Yuppies über ein paar heruntergekommene Viertel in der Innenstadt herfielen und sie aufmotzten, ist längst vorbei. Inzwischen sind die Pleiten mittelständischer und kleiner Unternehmen gang und gäbe, viele Häuser bankrotter Yuppies sind von den Banken in Besitz genommen worden. Geblieben ist vom Thatcherismus der Zynismus. Auf manchem Auto klebt ein Sticker mit dem Spruch: „Fuck the poor!“

Wenn Thatcher recht gehabt habe, fragt Eddie Holt, daß es „solch einen Begriff wie Gesellschaft“ gar nicht gebe, wie könne es da „einen Begriff wie London geben?“ Die Stadt ist ein Sammelname für ein Dutzend Gemeinden, die mit der „City“ – dem Finanzmoloch im Zentrum – das innere London bilden. Zusammen mit einem Ring von etwa 20 weiteren Gemeinden bilden sie das Greater London. Dessen Niedergang ist von der Eisernen Lady beschleunigt worden, als sie vor neun Jahren die Groß-Londoner Stadtverwaltung auflöste.

Der „Greater London Council“ (GLC) war ihr seit ihrem Amtsantritt 1979 ein Dorn im Auge, posaunte doch GLC-Chef Ken Livingstone, der “rote Ken“, mit einem Transparent auf dem Dach der County Hall jeden Tag die aktuelle Zahl der Arbeitslosen über die Themse in Richtung Westminster-Parlament. Seit Abschaffung des GLC wurschteln die Bezirke alleine vor sich hin. Gesamtstädtische Angelegenheiten werden von nichtgewählten Komitees und Arbeitskreisen wahrgenommen, die aniemandem rechenschaftspflichtig sind. Für Roy Porter, den Medizinhistoriker und Autor einer Sozialgeschichte von London, war die Auflösung des GLC der Augenblick, in dem London aufhörte, eine Weltstadt zu sein.

Seit Ende des Zweiten Weltkrieges ist die Bevölkerungszahl Londons um mehr als ein Fünftel gefallen. 1951 wohnten noch 8,2 Millionen Menschen in der Stadt, vierzig Jahre später waren es nur 6,4 Millionen. London gehört inzwischen nicht mehr zu den zwölf größten Städten, zur Jahrtausendwende wird es nicht mehr unter den ersten zwanzig sein. Zwar zieht es noch immer 250.000 Menschen pro Jahr nach London, doch 300.000 kehren im selben Zeit

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raum der Stadt den Rücken. „Es gibt kaum noch vernünftige Jobs in London“, sagt Mick Mulcahy, „wer einen einigermaßen ordentlichen Arbeitsplatz hat, lebt in ständiger Angst, ihn zu verlieren.“

Nur erhebliche Investitionen könnten an der Situation etwas ändern, das hat das Beispiel Paris gezeigt. In den fünfziger und sechziger Jahren ging es mit der französischen Hauptstadt bergab, doch gewaltige Finanzspritzen haben in den vergangenen zwanzig Jahren das Blatt gewendet. Aber wo soll in London das Geld herkommen? Jahrhundertelang hat Großbritannien Einwanderer und Flüchtlinge aus allen Ecken der Welt integriert. Die Tatsache, daß bis lange nach dem Krieg Vollbeschäftigung in London herrschte, trug entscheidend dazu bei. Bis 1962 hatten die Menschen aus den Ländern des Commonwealth das Recht, sich in Großbritannien niederzulassen. Dann beschloß die Regierung, dem einen Riegel vorzuschieben. Heute werden im wesentlichen nur noch ImmigrantInnen aufgenommen, die bereits Verwandte im Land haben.

Seit den sechziger Jahren haben sich auch jene – latent stets gegenwärtigen – Ansichten verstärkt, die Enoch Powell 1968 geäußert hat: „In 15 oder 20 Jahren wird der schwarze Mann über den weißen Mann die Peitsche schwingen“, sagte er als verteidigungspolitischer Sprecher der Tories in der Opposition und fügte hinzu: „Wenn ich in die Zukunft schaue, bin ich von bösen Vorahnungen erfüllt: Wie den Römern scheint mir, als sehe ich den Tiber überschäumend vor so viel Blut.“ Der Alte mußte seinen Hut nehmen, weil man so etwas nicht öffentlich sagt, aber die britische Einwanderungspolitik ist von dieser Denkweise nach wie vor bestimmt, obwohl sich Powells Vision als falsch erwiesen hat.

Die Einwanderer, die bisher bestrebt waren, sich einen bescheidenen Platz in der britischen Gesellschaft zu sichern, schlagen zurück. Ihre neuen Parteien – vor allem die moslemischen – treten gegen Integration ein: Sie wollen nicht mehr zur britischen Gesellschaft gehören, sondern zur islamischen Gemeinschaft. Schlüsselerlebnis war für sie der Krieg im ehemaligen Jugoslawien, wo Europa zuschaut, wie Tausende von Muslims abgeschlachtet werden. Die Einstellung der Islam-Parteien schafft Konflikte, die nicht mehr länger nach den bekannten Schwarzweißmustern ablaufen, sondern die Trennlinien verlaufen zwischen Muslims und Nichtmuslims.

Southall zum Beispiel, ein West- Londoner Vorort, galt als Mekka für britische Asiaten, wo die Bevölkerungsgruppen friedlich zusammenlebten. Seit März tobt dort ein Kampf zwischen Muslims und Sikhs. Damals fingen muslimische Jugendliche an, islamische Plakate nicht nur an den Hauptstraßen aufzuhängen, sondern auch vor einigen Sikh-Restaurants. Die jungen Sikhs nahmen diese Provokation nicht tatenlos hin. „Wir hassen die Muslims“, sagte einer von ihnen. „Wir brauchen etwas Action.“

Suresh Grover von der „Southall Monitoring Group“, einer Bürgerinitiative zum Schutz vor rassistischen Übergriffen, glaubt dagegen nicht, daß hinter dem Konflikt religiöse Motive stecken. „Die Arbeitslosigkeit wird immer schlimmer“, sagt er, „Southall war immer ein stark linksgerichtetes Arbeiterviertel, aber die politischen Traditionen der ursprünglichen Immigranten, die so sehr zum Gemeinschaftsbewußtsein beigetragen haben, bedeuten der jüngeren Generation überhaupt nichts mehr.“ Der junge Sikh will nur noch weg aus Southall, weg aus der Hauptstadt: „London ist totale Scheiße geworden.“