■ CDU und FDP wollen bei Krankheit weniger Lohn zahlen
: Es geht um Deutschland!

Die Ärzteschaft müßte empört aufschreien. Schließlich bezichtigt der sozialpolitische Sprecher der Unionsfraktionen, Julius Louven, die Weißkittel der permanenten Falschaussage. Er unterstellt, daß viele gelbe Scheine von Blaumachern stammen, die die Lohnfortzahlung zu einem lustigen Leben nutzten. Sie würden prassen, die Produktionskosten steigern und damit den Standort Deutschland gefährden. Dagegen wollen CDU und FDP jetzt angehen: Eine zwanzigprozentige Lohnkürzung in den ersten 14 Abwesenheitstagen sei ein probates Mittel gegen die Schmarotzer, befinden sie. Die tatsächlich Kranken müßten dafür auch „ein kleines Opfer“ bringen.

Der Angriff auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist alles andere als eine originelle Idee. Zuletzt wollte die Bundesregierung vor zwei Jahren drei Karenztage zur Finanzierung der Pflegeversicherung einführen. Doch nicht nur die Gewerkschaften drohten mit massiven Protesten. Auch die Arbeitgeber winkten damals ab. Sie hatten Angst um den sozialen Frieden. Schließlich ist in 85 Prozent der Tarifverträge die Lohnfortzahlung vereinbart. Daran würde auch ein Gesetz erst einmal nichts ändern. Und eine landesweite Streikwelle wäre bei einem Angriff auf das 1957 erstrittene Recht sicher.

Aber auch wenn der neuerliche Vorstoß keine Aussicht auf Erfolg hat, so ist er dennoch nicht belanglos. Er ist ein kleines Mosaiksteinchen für den Umbau des Sozialstaates. Permanente Leistungsfähigkeit soll zur Norm werden, während Krankheit und Gebrechlichkeit zu selbst zu verantwortenden und damit zu finanzierenden Problemen werden. Auf dem Weg dahin müssen immer mehr Leute als unberechtigte Nutznießer von Leistungen bezichtigt werden, die andere erwirtschaften. Bei den schwer zu organisierenden Sozialhilfeempfängern wurde bereits gekürzt, nachdem sie als Masse von Mißbrauchern diffamiert worden sind. Der jetzige Vorschlag zielt in die gleiche Richtung: Wer sich krank meldet, steht im Verdacht, ein Simulant und Betrüger zu sein.

Was bei alledem freilich nicht zur Sprache kommt, ist die Tatsache, daß auch Arbeit Leute krank macht. Betriebe mit schlechten Arbeitsbedingungen und einem hohen Krankenstand wären bei Verwirklichung des Vorschlags von CDU und FDP im Vorteil: Sie könnten einen Großteil ihrer Verantwortung auf die Arbeitnehmer abwälzen. Schließlich geht es ums Wohl des Ganzen. Um Deutschland! Annette Jensen