Unterwelt-Demo

■ Moskaus Privatunternehmer sagen der Mafia den Kampf an. Doch sind sie nicht selbst die Mafia?

Moskaus Nadelstreifen beginnen sich zu organisieren. Gegen andere Nadelstreifen, die jedoch noch ein bißchen erfolgreicher sind. So demonstrierten am vergangenen Mittwoch führende Vertreter der Geschäftswelt auf dem Ljubjanka-Platz der Hauptstadt. Hier hatte einst der KGB seinen Sitz, nun entzündeten die Jungkapitalisten am Gedenkstein für die Opfer des Stalin-Terrors Kerzen – und sagten damit der Mafia und auch der Regierung den Kampf an. Falls es nicht endlich gelänge, die unzähligen Morde an Geschäftsleuten aufzuklären, würden sie Ministerpräsident Tschernomyrdin im Wahlkampf nicht unterstützen.

Der Premier selbst hatte stumm am Sarg des Mannes gestanden, dessen Tod den Anlaß zu all dem lieferte. Der 46jährige Iwan Kiwelidi, Haupt der „Rossbusinessbank“ und Präsident des von ihm selbst initiierten „Runden Tisches des russischen Business“, war am 4. August gestorben – allem Anschein nach an den Folgen einer Vergiftung. Die etwa vierzig Mitglieder des „Runden Tisches“, dem es um eine Verständigung zwischen Geschäftswelt, Bürgern und Regierung geht, versprachen, die Untersuchung des Vorganges selbst in die Hand zu nehmen. Sie setzten die unerhörte Summe von einer Million Dollar Belohnung für Hinweise aus. Ihr Sprecher Wladimir Schtscherbakow wedelte zudem drohend – vorerst allerdings nur unter dem „Runden Tisch“ – mit einer Liste bestechlicher Minister. Für russische Verhältnisse revolutionär klang sein Vorschlag, einen „Kodex des Geschäftslebens“ zu formulieren, dessen Unterzeichner sich verpflichten sollen, bei all ihren Operationen auf Bestechung zu verzichten.

Die von den Unternehmern wegen Tatenlosigkeit gerügte Polizei bewachte deren Demo sorgfältig. Allerdings schützten die staatlichen Leibwächter hier vor allem ihresgleichen – kaum einer der Protestierenden hatte weniger als zwei Bodyguards mitgebracht. Beim Publikum erregte diese Kundgebung mehr Neugierde als Mitgefühl. Natürlich wurde vor allem gefragt, wie sich diese Demonstranten von der Mafia unterscheiden: „Und woher haben die ihr Kapital? Etwa vom Sparbuch?“

Der Mord an Kiwelidi selbst hatte jedoch Empörung in der Öffentlichkeit ausgelöst. Der gutaussehende Geschäftsmann gehörte nicht zu den Haien des russischen Business, er galt als zuverlässig und wohltätig. Kiwelidi war ein Meister in der Kunst der Konfliktschlichtung. Sein „Runder Tisch“ versuchte Regeln für das Funktionieren der neuen Marktwirtschaft aufzustellen, die die Interessen aller Seiten berücksichtigen. Viele Spekulationen über die Gründe für den Mord knüpfen an Kiwelidis politische Rolle an. Der Versuch, den kriminellen Strukturen zu drohen, wurde erst möglich, als die Moskauer Geschäftleute in ihren Reihen ein Opfer vorweisen konnte, das sich wenigstens annähernd für die Rolle des „reinen“ Märtyrers eignete. Darauf hatten sie eine Weile warten müssen, Kiwelidi war schon das neunte Mitglied des „Runden Tisches“ das mit seinem Leben zahlte. 46 russische Unternehmer wurden letztes Jahr Opfer von Auftragsmorden. Für die Geschäftswelt erschien das Maß diesmal voll.

Der Psychologie-Professor Dmitrij Olschanski hatte als Leiter des „Zentrums für strategische Analysen und Prognosen“ zwei Tage vor Kiwelidis Tod einen neuen Bankier-Mord vorausgesagt. Die Tageszeitung Kommersant fragte ihn, warum. Olschanski betont in seiner Antwort die besonderen Umstände, unter denen die russischen Bankiers 1990/91 ihre Geschäfte aufnahmen. Im fast gesetzlosen nachsowjetischen Raum eignete sich jeder soviel vom Volkseigentum an, wie er nur konnte. Dabei wurden zuerst die illegal erworbenen Gelder der kommunistischen Nomenklatura gewaschen, später beeinflußte man die Privatisierungsverfahren der großen Produktionsstätten im eigenen Sinn. Die Grenzen zwischen neuen Spielregeln und altem Verbrechen waren dabei fließend.

Olschanski gesteht zu, daß viele auch gegen den eigenen Willen unter kriminellen Einfluß geraten konnten. Die großen Gelddynastien des Westens brauchten drei Generationen, um „ehrlich“ zu werden, meint der Professor und fährt fort: „Aber der, der sein Kapital erst vor fünf Jahren gemacht hat, kann sich den saubersten Anzug anziehen, er bleibt trotzdem befleckt. Und seine alten Bindungen, die wird er nie wieder los.“

Für Experten stellen sich die Geschäftsleute von heute nur in seltenen Fällen als ganz weiß oder schwarz dar, sie sehen eher kariert aus. Der Wunsch nach einem „Kodex des russischen Geschäftslebens“ sei daher ein frommer. Der Unternehmer Oleg Kisseljow sagt: „Das Hauptproblem existiert unter uns. Wir bedienen uns Krimineller, um uns gegenseitig zu vernichten. In 90 Prozent der Fälle entspringt die Gewalt in Unternehmerkreisen.“

Bankiers aber, die heute in Moskau „ehrlich werden“ wollen, können sich keinerlei Kompromisse mehr mit den Geistern leisten, die sie zur Wiege ihrer Unternehmen riefen. Weitere Morde sind deshalb zu erwarten. Barbara Kerneck