Jetzt mehr Soll als Haben

■ In Restjugoslawien haben sich die positiven Effekte der Wirtschaftsreform verbraucht Aus Belgrad Ursula Rütten

Belgrad im Sommer 1995: Auf den ersten Blick präsentiert sich die Hauptstadt eines Landes unter internationalen Embargobedingungen geschäftig und mit Waren und Konsumgütern gut bestückt.

Wer als Gast aus Deutschland bei der Umrechnung der Preise deutsche Durchschnittseinkommen im Kopf hat und nicht weiß, daß man in Restjugoslawien im Mittel umgerechnet gerade mal 70 D-Mark verdient, wird sich allenfalls sagen, daß es sich wegen des hohen Preisniveaus nicht „lohnt“, hier „shoppen“ zu gehen. Weder an Lebensmitteln noch an anderen Waren des täglichen Gebrauchs herrscht Mangel. Auch ausländische Produkte, Reinigungsmittel, Milchprodukte, italienische Nudeln zum Beispiel, sind zum drei- bis fünffachen Preis heimischer Produkte auf dem Markt.

Im Juni sind die Preise in Restjugoslawien, also in Serbien und Montenegro, im Vergleich zum Mai um 5,3 Prozent gestiegen. Doch was gegenüber der Hyperinflation vor eineinhalb Jahren makroökonomisch als Fortschritt zu verbuchen sein mag, nützt den meisten Menschen hierzulande nichts. Sie können sich die Waren trotzdem nicht leisten. Die damals in Angriff genommene radikale Wirtschaftsreform hat neben ihrem Elan nun auch den Nutzen für Verbraucher eingebüßt. Ein weiteres Indiz dafür ist der wieder ansteigende Schwarzmarktkurs der D-Mark: Wer „Glück“ hat, erhält bereits bis zu zweieinhalb Dinar für eine D-Mark.

Im Januar 1994 hatte mit Dragoslav Avramović ein neuer Nationalbankchef das wirtschaftliche Ruder im ehemaligen Jugoslawien übernommen und damit neben einer milliardenschweren Last an Auslandsschulden auch eine Hyperinflationsrate von 314 Millionen Prozent in jenem Monat Januar. Soweit man das angesichts der nur sporadisch und auszugsweise veröffentlichten Statistiken sagen kann – Angaben über Devisenreserven und Leistungsbilanzdaten sind geheim – hat dessen radikale Kurskorrektur erst einmal Früchte getragen: die Eindämmung der Inflation und eine Steigerung der Industrieproduktion. Avramovićs Kampfstrategie gegen den endgültigen Bankrott der restjugoslawischen Wirtschaft hatte vier Schwerpunkte. Als erstes galt es, die Notenpresse zu stoppen, die die Regierung bis dato unkontrolliert bediente, um den Krieg zu finanzieren, und Haushaltsdefizite auszugleichen. Avramović führte einen neuen jugoslawischen Dinar ein, und zwar in einer Geldmenge, die durch 200 Millionen US-Dollar an Gold- und Devisenreserven gedeckt war. Der neuen Währung unter dem alten Namen wurden radikal die zig Nullen gestrichen; der neue Dinar wurde an die D-Mark gekoppelt im Verhältnis eins zu eins.

Die Geschäftsbanken erhielten ebenso Kredit wie der föderale Haushalt und die Republik-Haushalte von Serbien und Montenegro, um ihre Defizite zu decken. Ein positiver realer Zinssatz wurde eingeführt, die Preise wurden weitgehend stabilisiert und – bis auf jene für Grundnahrungsmittel und Energie – gleichzeitig freigegeben. Die Politik des knappen Geldes zwang Unternehmen, ihre Devisenguthaben einzulösen, so daß die Valutareserven der Zentralbank stiegen. Schließlich gehörten krasse Steuererhöhungen zum Stabilisierungsprogramm. Die Steuererhöhungen allerdings verhinderten die längst überfälligen Lohnanpassungen und auch die Steigerung der Liquidität von Firmen für die Modernisierung.

Das war der wundeste Punkt des Reformprojekts. Als Fehlschlag erwies sich auch die Absicht, mit niedrig gehaltenen Preisen für Grundnahrungsmittel und elektrischen Strom sozialen Frieden zu erkaufen. Bauern und andere Nahrungsmittelerzeuger verknappten absichtlich ihr Angebot, um ihre Produkte außerhalb des vom Staat kontrollierten Verkaufsnetzes zu deutlich höheren Preisen anzubieten.

Gescheitert ist auch der Versuch, die seit Jahren unterkapitalisierte Wirtschaft mit Kreditspritzen wieder richtig in Schwung zu bringen. Die bevorzugten Unternehmen in staatlichem beziehungsweise gesellschaftlichem Besitz nutzen die erhaltenen Kredite weniger für Investitionen als für alte Rechnungen. Da viele Kredite nicht produktiv angelegt worden sind, fließt kein Geld zurück. Die mit der Kreditvergabe betrauten Banken geraten zunehmend in eine ernste Krise.

Unter dem Strich bleibt vom Avramović-Kurs die Inflations- Vollbremsung. Solange aber alle grundlegenden Ursachen des wirtschaftlichen Desasters – wie der Zerfall des ursprünglich eng vernetzten jugoslawischen Binnenmarktes, der Wegfall von Joint- ventures mit Westfirmen, der „Bannfluch“ des IWF gegen Restjugoslawien sowie die offizielle Behinderung des Handels mit den südosteuropäischen Nachbarstaaten durch das UN-Embargo – weiter bestehen bleiben, dürften sich kaum langfristige Lösungen für diesen Wirtschaftsraum anbieten.