Unter dem Pflaster liegt ein See

Wo Berlin am staubigsten ist, schwimmen die Bagger seit neuestem. Am Potsdamer Platz herrscht Seerecht – damit die Angestellten ihre Autos vier Etagen tief parken können, ohne naß zu werden  ■ Von Rolf Lautenschläger

Kurz vor der Mittagspause hakt es, irgendwo. Die drei Schwimmklötze lassen sich nicht mit dem Potonschiff II verbinden, die Scharniere wollen einfach nicht einklinken. Günther Marks, der Schwimmbaggerführer, hilft aus der Verbindungslosigkeit. Er dreht den Dieselmotor seines kleinen Schleppers auf vollen Schub, wendet, daß es wellt, lenkt den Schlepper in Crash-Position – und bleibt stehen. Dann drückt er aufs Gas. Mit Karacho donnert sein Schiffchen gegen die Pontonkästen.

Einmal. Zigmal.

Das Hartgummi am Schlepper- Bug quietscht grauenvoll, und irgendwann hat Günther Marks es geschafft. Die 15 Meter langen Pontons schmiegen sich aneinander, ihre Metallverschlüsse schnappen zu. Sofort klopfen Bauarbeiter armdicke Stifte in die Halterungen: ein Konzert aus hundert Hammerschlägen. Für Günther Marks ist die Arbeit erst einmal beendet. Aber zur Mittagspause geht er nicht. Marks bleibt „auf See“.

An der staubigsten Stelle Berlins befindet sich der See, inmitten der bombastischen Baustelle von debis/Daimler-Benz am Potsdamer Platz. Und Günter Marks ist der Neptun des Daimlersees. Das winzige Wasserloch wird der Schwimmbaggerführer in den nächsten Wochen zum größten innerstädtischen Baggersee aushöhlen. Mit seinem „Hydraulikpontonstelzenbagger“ schafft er Platz für eine gigantische Unterwasserbaugrube. 18.000 Quadratmeter oder drei Fußballfelder groß, bis zu 30 Meter tief und grundwasserkalt soll das Loch in der Mitte werden, in das einmal die viergeschossige Tiefgaragenwelt von debis/Daimler-Benz für 2.500 Autos gegossen werden soll.

Wenn die Grube ausgehoben ist, vereinigt sich der See mit einem zweiten, fast ebenso großen, auf dem benachbarten Baufeld, auf dem ein unterirdischer Regionalbahnhof gebaut werden soll – mit Exklusivzugang zur Daimlerstadt.

Seit Marks Plattformen für den mobilen Schwimmbagger zusammenwuchtet und zugleich das turmhohe und 1.000 Tonnen schwere Hydraulikschiff startklar macht, gilt auf dem „Baufeld B“ am Potsdamer Platz deutsches Seerecht. Falls ein Arbeiter in den Baggersee stürzt, helfen ihm Rettungsringe und Notsignale.

„Auf der Baustelle arbeiten wir jetzt nach denselben Sicherheitsvorschriften wie im Hamburger Hafen oder auf den Bohrinseln in der Nordsee“, sagt debis-Sprecherin Ute Wuest von Vellberg. Jeder Ponton erhalte zusätzlich ein Beiboot, auf dem Schwimmwesten und Rettungskoffer liegen.

Seerecht und Seemannssprache herrschen an Bord des Hydraulikpontonschiffes, auf dem der massige Schwimmbagger schon wie ein Monster thront. Ein Steg führt hinauf aufs Schiff, das diese Woche noch auf dem Trockendock liegt und in den nächsten Tagen von Marks, seinem Sohn und Lehrling Holger sowie einem weiteren Bootsmann in einer eigens dafür gegrabenen Fahrrinne hinüber zum Ponton II geschippert wird.

Kapitän Marks hat sich in der Kombüse am Heck eingerichtet, eine Mischung aus Pausenraum und Werkstatt. Kaffee dampft neben Werkzeug. Pläne hängen an der Wand. Zigarettenqualm und Geschichten hängen in der Luft: „Wer so einen Job macht, muß schiffig sein“, legt Marks los. Wellengang, Strömungen, Wind und Wetter, das muß man kennen. Ein schaukelnder Schwimmbagger ist eben nichts für Landratten.

Marks ist „schiffig“. Nach einer Ausbildung zum Seemann und Fahrten rund um den Globus heuerte er 1976 bei einem Seebaggerunternehmen an. „Weil meine Frau das so wollte.“ Doch aus dem Familienleben wurde nichts, denn Marks baggerte nicht nur im Hamburger Hafen. Mit seinem Schwimmbagger schipperte er nach Jordanien, grub vor der Schottischen Küste Löcher für Ölplattformen und senkte den Greifarm in den Nordatlantik. Und nun buddelt er ein Loch am Potsdamer Platz.

Als „schiffig“ erweist sich auch das unförmige Pontonschiff, das vom Matrosen Holger den letzten Farbanstrich erhält. Unter der Kombüse liegen Dieseltanks, die Werkstatt und der Maschinenraum, der mit 750-PS-Motoren die Pontons anschiebt. An allen vier Ecken der 45 Meter langen Plattform führen breite quadratische Öffnungen durch den Schiffsrumpf. Dort werden die Stelzen durchgeführt, die den Ponton am Grund zusätzlich stabilisieren. „Vorn, am Bug, liegt das Herzstück des Schiffs“, erklärt der Seemann das Männerspielzeug: der Bagger mit 1.350 PS Motorleistung, ein 35 Meter langer Hubarm, die Schaufel, in die vier gefüllte Badewannen passen, sowie die Computeranlage für unterseeische Grabungen. „Mit Baggern, die an den Rändern des Grundwassersees postiert wären, könnte eine so große Grube nicht auszuheben sein. Die Ausleger schaffen die Längen nicht“, erklärt Marks.

Wenn der motorisierte Ponton seine Position erreicht hat, werden die Gegenlasttanks gefüllt. Dann heißt es: „Grund up!“ Der Schwimmbaggerführer wird dann in seiner Kanzel sitzen und das Greifmonster über einen Bildschirm steuern. Ein neu entwickeltes Computerprogramm verwandelt die schwere Maschine in einen Roboter, der die Tiefenmeter und Mengen aushebt genau wie eingegeben. Am stählernen Arm sitzen Sensoren, die im Monitor ein grafisches Bild aufbauen, das Lage, Winkel und Tiefe der Schaufel zeigen. Ist die eingegebene Tiefe erreicht, fährt Marks den Bagger weiter und schaufelt die danebenliegende Position aus. Gebaggert wird in einer Halbkreisbewegung. Am Ende sei der Grund so eben wie eine Tischplatte, prophezeit Marks.

Auf Berliner Baustellen ist die Arbeit mit derart differenzierten Seebaggertechniken ein Novum. Der Grund: Auf dem 340.000 Quadratmeter großen Areal baut debis Hotels, Bürohochhäuser, Kinos, Theater, Einkaufsmalls, Wohnungen und Läden. Deren tiefgreifende Untergeschosse liegen alle unterhalb des Grundwasserspiegels.

Während bei den weniger tiefen Gruben von acht bis zehn Metern am Südrand der 60-Hektar-Bauwüste mit einer in den Boden injizierten Dichtungsmasse die Grundwasserströme abgehalten und nach dem Aushub das Fundament betoniert werden konnte, „läßt sich das bei 20 und 30 Meter tiefen Baugruben nicht machen“, sagt von Vellberg. „Der Druck des Grundwassers würde die erhärtete Dichtungsmasse sprengen und die Baugrube überschwemmen.“ Ein ständiges Leerpumpen der Gruben hätte die fatale Folge einer Grundwasserabsenkung. Im nahen Tiergarten würden die Bäume verdorren. Der fehlende Auftrieb würde die benachbarten Häuser einstürzen lassen. „Da baggern wir lieber die Grube aus, lassen das Grundwasser reinlaufen und betonieren unter Wasser“, meint von Vellberg klaglos.

Umweltgruppen und grüne Politiker halten die Tiefenbaggerei nahe des Tiergartens auch nach den harten Umweltauflagen, die debis erfüllen muß, für gefährlich. Die Rückpumpung des Grundwassers in den Tiergarten sei keine Garantie gegen den „Umwelt-GAU“, protestiert etwa der BUND. Große Gruben senkten den Grundwasserspiegel gewaltig ab. Ökologisch riskant ist auch die Abdichtungsmethode. Gerade entdeckten Gutachter der TU Braunschweig im Abdichtungsgel hohe Nitratkonzentrationen, die den Boden vergiften. „Daimler-Benz ist oben laut und unten versaut“, polterte im Juli bei einem Anwohnerprotest gegen den nächtlichen Baulärm eine Bürgerin.

debis ist von der Vernunft und von der Gefahrlosigkeit des Tiefbohrens überzeugt. „Wir tun das, was ökologisch erforscht und sinnvoll ist, und kontrollieren ständig den Grundwasserspiegel“, sagt von Vellberg. Daß die Schwimmbaggeraktion abenteuerlich genug ist, findet die Sprecherin nicht. Schon vor der Tiefenbaggerung wurden rund um den späteren Baggersee in 25 Meter Tiefe dicke Stahlpfähle getrieben. Sie bilden quasi die Seitenwände der geplanten unterirdischen Parkhausstadt. Wenn von den Aquadiggern alles abgetragen ist, laden die Pontons ganze Betonwerke, von denen der flüssige Zement über Rohre in die Tiefe gepumpt wird.

Unten auf dem Grund legen gleichzeitig ganze Heerscharen von Tauchern im trüben Licht von Unterwasserlampen eine 1,5 Meter dicke Sohle aus Spezialbeton und Stahlbewehrungen und verankern die Bodenplatte zusätzlich im märkischen Sand. Sobald das Fundament hart geworden ist und mit den Seitenwänden ein dichtes Becken bildet, wird der See leergepumpt. Debis kann dann aus dem Boden wachsen.

Präzisionsarbeit verspricht auch Marks. „Die Riesenschaufel kann ein Ei aufheben, ohne es zu zerbrechen.“ Die filigrane Technik wird ebenfalls durch das Computerprogramm gesteuert, das aus dem Saurier einen zahmen Elefanten macht.

Mit dem letzten Schrei rückt Marks erst am Ende raus: „Einen Autopiloten gibt's natürlich auch. Wenn ich den einstelle, buddelt das Ding automatisch.“

Und dann, sagt Marks, „gehe ich Kaffee trinken“.