Chinas neuer Nationalismus

Im Kampf um die Nachfolge des 91jährigen Deng Xiaoping sucht sich die Parteiführung eine neue Legitimation. Das Ausland soll Respekt vor der Großmacht bekommen  ■ Aus Peking Sheila Tefft

Am einundneunzigsten Geburtstag des Altpolitikers Deng Xiaoping waren gestern die chinesischen Zeitungen voll von großen Fotos des Mannes, der als sein Nachfolger auftritt: Jiang Zemin. Die begleitenden Artikel priesen Partei- und Staatschef Jiang als zentrale Führungspersönlichkeit der Gegenwart. Über Deng kaum ein Wort.

Unter Jiang versucht die Kommunistische Partei, die um ihren politischen Einfluß im Lande kämpft, sich nun als Vorkämpferin eines neuen, harten Nationalismus zu profilieren. Mit zwei Raketentestserien hat ihre Führung in den vergangenen Wochen versucht, Taiwan einzuschüchtern, das als abtrünnige Provinz betrachtet wird. Sie führte unterirdische Atomversuche durch und suchte Chinas Anspruch auf die umstrittenen Spratly-Inseln im Südchinesischen Meer militärisch durchzusetzen.

Taiwans Präsident Lee Teng- hui wird heftig und drohend beschimpft, weil er versucht, die internationale Isolierung seines Landes zu durchbrechen. Damit stelle er die Einheit Chinas in Frage, heißt es. Peking kritisiert Washington, weil Lee in diesem Jahr erstmals ein Einreisevisum für die USA erhielt, seit der Inhaftierung des amerikanisch-chinesischen Dissidenten Harry Wu ist das Verhältnis frostig.

„Das Militär sitzt am Steuer. Keiner der Führer hat das Format von Deng und die Verbindungen zur Armee, um die Sache in die Hand zu nehmen. Sie (die Militärs. d. Red.) kriegen, was sie wollen“, sagte ein westlicher Diplomat in Peking.

Die Gerüchte über Dengs prekäre Gesundheit oder unmittelbar bevorstehenden Tod sind weitgehend verstummt. Deng, Architekt der chinesischen Wirtschaftsreformen seit 1979, hat immer einen Kurs scharfer politischer Repression bei gleichzeitigem schnellem Wirtschaftswachstum verfolgt. Dabei vermochte er die rivalisierenden Gruppen innerhalb der Partei zusammenzuhalten. Sein designierter Nachfolger Jiang Zemin konnte in diesem Jahr seine Position in der chinesischen Führung verbessern. Doch kaum jemand traut ihm zu, daß er die Zügel auf lange Sicht in der Hand halten kann.

Diesen Frühling stand der Partei- und Staatschef an der Spitze einer Anti-Korruptions-Kampagne, die den angeschlagenen Ruf der Partei verbessern und einige politische Feinde aus dem Weg schaffen sollte. Zugleich suchte er die konservativen Kritiker der Dengschen Wirtschaftspolitik zu beschwichtigen, indem er begann, die Reformen zu verlangsamen.

Tatsächlich hat Jiang im Interesse sozialer Stabilität die Privatisierung von Staatsunternehmen abgelehnt und sich für eine Expansion dieser Fabriken und den Schutz von Arbeitsplätzen der dortigen Arbeiter ausgesprochen – von denen er Unterstützung für seine Politik erhofft. Die „Unternehmen sollten nicht einfach ihre Leute in die Gesellschaft zurückstoßen“, sagte Jiang Zemin kürzlich.

Doch indem er näher an die konservative Front rückt, riskiert der chinesische Präsident und Parteiführer, daß Liberale und Reformer ihm mit wirtschaftlichen Reformen die Schau stehlen. Chinesische Beobachter sehen eine neue Allianz zwischen Qiao Shi, einem ehemaligen Chef der Geheimpolizei, Zhao Ziyang, dem gestürzten liberalen Parteichef, und außerdem Wang Li und Yang Shangkun, zwei alternden Revolutionären und mächtigen Unterstützern von Deng.

Vor dem Hintergrund der Spaltungen innerhalb seiner Partei hat Jiang dem Militär freie Hand gelassen. Und er hat den chinesischen Nationalismus heraufbeschworen, um die Bevölkerung hinter sich zu bringen.

Nach einer langen Phase der Schwäche befindet sich China heute auf dem Weg wirtschaftlichen und technologischen Aufstieges. Die Pekinger Politiker finden daher, daß der Westen, vor allem die USA, ihnen den Respekt versagen, den es verdient.

In diesem Klima fürchten Jiang und andere hochrangige Politiker, in Fragen der Souveränität und des nationalen Stolzes zu weich zu erscheinen. Deshalb unterstützen sie die Ansprüche des Militärs auf die umstrittenen Spratly-Inseln im Südchinesischen Meer und die Atomtests. Beides hat zu großer Beunruhigung in Japan und bei den anderen Nachbarn geführt.

Sie scheinen auch entschlossen zu sein, die taiwanesische Regierung unter Lee zu schwächen, die sich im Endspurt für die Präsidial- und Parlamentswahlen im nächsten Jahr befindet. Sie versuchen, die taiwanesische Bevölkerung so einzuschüchtern, daß sie sich gegen ihren eigenen Präsidenten wendet, der so stark auf die Eigenständigkeit der Insel pocht.

Lee, der Peking in Rage brachte, als er den Vereinigten Staaten für ein College-Treffen einen angeblichen „Privatbesuch“ abstattete, ist der Favorit bei der Wahl zum Präsidentschaftskandidaten der regierenden Kuomintang-Partei im nächsten März. „Peking denkt, es könne die taiwanesischen Geschäftsleute beeinflussen und Lees Halt innerhalb der Kuomintang unterminieren“, sagte ein westlicher Diplomat in Peking. „Das könnte aber den umgekehrten Effekt haben, da die Taiwanesen mehr internationale Anerkennung und Schutz wollen und eine nationale Identität, die sich von China unterscheidet.“