Lichtspiele
: Zur Höhle mit Platon!

■ Die Erwachsenen und ihr Kunstverstand – 100 Jahre Genrekino

Im Anfang war der Genrefilm, und das Genre war der Western – es spricht jedenfalls manches dafür, die Geschichte des Spielfilms mit „The Great Train Robbery“ aus dem Jahr 1903 beginnen zu lassen: Das kurioseste, kindischste Genre überhaupt steht am Beginn der Filmgeschichte, und das sollte uns doch sehr zu denken geben. Zum Beispiel, daß Kino und vorschriftsmäßiges Erwachsensein nicht so gut zusammenpassen. Das Naive, Unseriöse, Vulgäre des Kinos im allgemeinen und des Western im besonderen ist offenbar kein Ausrutscher, sondern von langer Hand geplant – das Gesetz, nach welchem das Filmmedium angetreten, bis heute. Dem Lamento, es würden in jüngster Zeit nur noch Filme für Kinder gemacht (und dann kriegt in der Regel Spielberg sein Fett weg), ist ruhig entgegenzuhalten: Das war ja immer so! Beziehungsweise umgekehrt: Wenn ein Erwachsener ins Kino geht, wird er zum Halbwüchsigen, deswegen geht er ja ins Kino!

Ich spreche nicht vom Fernsehen, sondern von Filmen fürs Kino und im Kino: Sie richten sich an Jugendliche, so zwischen zwölf und achtzehn, an das Durcheinander in ihren Köpfen und Körpern (weswegen es im Kino immer auch ein bißchen nach Pubertät riecht). Wenn sich dort also ein Erwachsener einschleicht und wird nicht wieder zum Kindlein – wahrlich, ich sage euch, ihm wird der Kinohimmel für immer verschlossen bleiben.

Wenn das Kino der Ort ewiger Jugend ist, so heißt das nicht, daß es dort unerwachsen im Sinne von kindisch und albern zugehen muß. Bitte erinnern Sie sich daran, wie clever und smart Sie als Fünfzehnjähriger waren, Ihre Eltern und Lehrer hatten keine Chance, von Ihren genialischen Anwandlungen ganz zu schwei

gen. Sie waren respektlos und aufsässig, die Predigten der Obrigkeit fielen auf tauben Boden. Um zu wissen, was Kino im emphatischen Sinn ist, müssen Sie sich nur vorstellen, was ein Erwachsener, nett und niveauvoll, schätzt: Das also ist es mit Sicherheit nicht.

Genrefilme haben bei Erwachsenen, also beispielsweise dem Evangelischen Film-Beobachter und der Katholischen Filmkommission (Herausgeber des zehnbändigen „Lexikons des Internationalen Films“!) einen schlechten Ruf: Das ist ja immer dasselbe! Und da Genrefilme erkennbar Konventionen folgen, sind sie eben konventionell, und das ist schlecht. Außerdem zeigen sie so gar kein Interesse am Sehgewohnheiten-, geschweige denn Weltverändern! Sie sind eigentlich nur eine weitere Perfidie des Kapitals in Gestalt seiner Speerspitze, des menschenverachtenden Studiosystems („Hollywood“). Die Ausbildung von Genres war und ist nämlich nichts anderes als ein plumper Versuch, Produktionskosten qua Standardisierung zu senken und außerdem zielgenauer die Zuschauer zu erreichen: verschiedene Genres, verschiedenes Publikum – Westernfans gehen ganz selten in Opernfilme (mit Ausnahme von „A Night at the Opera“). Mittels der vorgetäuschten Vielfalt des Genrefilms wird so den lohnabhängigen Massen das sauer verdiente Geld aus der Tasche gezogen!

Auch wenn ich mich über solche Argumente beziehungsweise Tiraden etwas lustig mache – ganz falsch ist das ja gar nicht, freilich mit einer anderen Pointe fürs Publikum; Genre ist eine Produktgarantie, ein Versprechen: Wo Western draufsteht, da ist auch Western drin.

Genrefilme stehen nicht für sich allein und auf weiter Prärie,

sondern in einer langen Reihe, wie ein Wagentreck. Am Zügel der Konventionen – der im Fall des Western eher lang ist – bewegt sich der Genrefilm im Bereich von Wiederholung und Variation. Ein paar Regeln müssen natürlich eingehalten werden: Wenn keine schwarzen und weißen Hüte, Pferde und Revolver vorkommen, handelt es sich wahrscheinlich nicht um einen Western, sondern möglicherweise um einen U-Boot-Film, Wiederholung, Variation, wenn es hoch kommt ein kleiner Regelverstoß – im Unterschied zum experimentierfreudigen Theater sind Western im Frack oder in SS- Uniformen unüblich.

Dieses vorsichtige Verhältnis zu systemüberschreitenden Änderungen ist ein weiterer Grund, warum die Erwachsenen den Genrefilm von oben herab behandeln, denn damit entzieht er sich dem zentralen Kriterium, dem Fetisch der modernen Kunst: Innovation. Die Ernennung zum Kunstwerk aber ist für Erwachsene die wichtigste Möglichkeit, für viele geradezu die Bedingung, sich einem Spiel hinzugeben. Daher ist es für sie so bedeutsam, Filme als Teil der Hochkultur absegnen zu lassen, sozusagen als Absolution dafür, daß sie ins Kino gehen und die Realität schwänzen.

Dem Kino, dem Western gegenüber ist solch ein Bierernst, wie er der Hochkultur und den volkspädagogisch tätigen Erwachsenen eignet, besoners unangemessen, ja lächerlich. Es ist doch nur Kino! Etwas für kleine Ladenmädchen und dumme Jungs! Also bitte ganz entspannt bleiben, keine hochtrabenden, anstrengenden Reden schwingen und es sich dreimal überlegen, ob nun schon wieder Platons Höhlengleichnis oder das Lacansche Spiegelstadium herbeizitiert werden müssen.

Im Ernst: Ich befürchte, daß das Kino, wenn es als Teil der Hochkultur angesehen wird, verliert; es wird vielleicht genauso langweilig und prätentiös. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Man sollte die Hochkultur von ihrem Bierernst erlösen und sich klar machen, daß es für einen erwachsenen Menschen ja schon etwas objektiv Komisches hat, einen Roman zu lesen, geschweige in die Oper zu gehen.

„It's no good asking me to talk about art.“ Dieser Satz John Fords ist Ausdruck von Selbstbewußtsein: Der Genrefilm versteht sich dezidiert als Teil der Populärkultur, nicht als Kunst, und daher fällt es den gutwilligen und bemühten Erwachsenen so schwer, ihr Kunstetikett dem Genrefilm, dem Western, anzukleben.

Die monarchistische Einzigartigkeit, die jedes Kunstwerk der Moderne von sich behauptet und als Monstranz vor sich herträgt, steht fassungslos dem Egalitarismus des Genrefilms gegenüber, der, wenn überhaupt, nur feine Unterschiede erkennen läßt (gelegentlich ist dies natürlich ein Unterschied ums Ganze ...). Genre und Kunst erkennen sich als Widerpart, was die Frage aufwirft, ob nicht Film und Kunst Gegensätze sind und das Kino sich vor den gutgemeinten Erziehungs- und Bemächtigungsversuchen der Erwachsenen – Kritiker, Filmologen und ähnliche Kulturträger – nicht besser in acht nehmen sollte. Aber möglicherweise ist meine Sorge übertrieben, die etablierte Filmkritik jedenfalls hat immerhin 70 Jahre gebraucht, um mitzukriegen, daß Genre dem Kino zentral und nicht nur ein Schimpfwort ist. Kurt Scheel

Der Autor ist Mitherausgeber der Zeitschrift „Merkur“. Die „Lichtspiele“ werden sich das nächste Mal mit dem Western beschäftigen.