Von der Sucht nach Auseinandersetzung

Totgesagte usw.: Lotto sei dank kann das Tournee-Theater des BE bis Ende des Jahres noch 46 Mal über die Dörfer ziehen – ein Unternehmen, das mit dem Haupthaus vor allem durch beiderseitigen Imagegewinn verbunden ist  ■ Von Petra Kohse

Anfang Juni dieses Jahres war eigentlich alles geregelt. Die Verträge der Schauspieler waren nicht verlängert worden, die Bilanz des Experiments „Tournee-Theater des Berliner Ensembles“ war gezogen, publiziert und bereit, in die Annalen einzugehen. Es ist eine Erfolgsbilanz geworden: Seit März 1994 hat die Sondertruppe vom Schiffbauerdamm fast 160 Gastspiele in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen- Anhalt gegeben.

In Schulen, auf Wirtshaus- und Freilichtbühnen, in Scheunen, Jugendzentren oder Gefängnissen wurden Peter Zadeks Brecht-Inszenierung „Der Jasager und Der Neinsager“, Ionescos Stück „Die kahle Sängerin“ (Regie: Elisabeth Gabriel) und Thorsten Weckherlins Inszenierung einiger Szenen aus „Ich bin das Volk“ von Franz Xaver Kroetz vor insgesamt 16.976 Zuschauern gezeigt, anschließende Diskussionen mit dem Publikum inklusive.

Trotz des großen Anklangs sollte Schluß sein, denn das nunmehr allein von Heiner Müller geleitete BE meinte, sich diese Initiative von Ex-Mitdirektor Peter Zadek nicht weiter leisten zu können. Fünf der sieben Schauspieler waren schließlich eigens für das Tournee-Theater engagiert worden, und der technische Stab mußte ebenso gesondert bezahlt werden wie der Gastspielleiter Weckherlin. Dieser, ein vorheriger Zadek- Assistent, hatte das Unternehmen mit Lust, Liebe und etlichen Überstunden betrieben, doch selbst einspielen konnte er aufgrund der niedrigen Eintrittspreise (fünf bis zwölf Mark) eben doch nur zehn Prozent der Kosten.

BE-„Regie-Opas“ verzögern die Planung

Mitte Juni kam dann die überraschende Nachricht, daß die Tournee-Truppe aus dem Kulturtopf der Deutschen Klassenlotterie 700.000 Mark für 46 weitere Aufführungen bis Ende 1995 erhalten wird. Große Freude einerseits, nicht unerhebliche Probleme andererseits. An Stücken darf Weckherlin lediglich seine „Volk“-Inszenierung übernehmen, von den BE-Schauspielern steht ihm derzeit nur Ulrich Hoppe definitiv zur Verfügung. Aus der Sondertruppe konnte immerhin Wolfram Teufel erneut engagiert werden. Ein Vertrag mit Ursula Stampfli steht in Aussicht, zwei weitere Stellen sind noch vakant.

Ursprünglich sollten ausschließlich Mitglieder des Stammensembles auf Tour gehen, sagt Weckherlin, aber da die „Regie-Opas“ Fritz Marquardt, Heiner Müller und Peter Palitzsch bis heute noch nicht wüßten, wer in ihren Stücken spielen wird, ist er auf Gäste angewiesen. Denn der Grundsatz des Tournee-Unternehmens ist schließlich, sofort und jederzeit buchbar zu sein. Für die Veranstalter kostenlos, wohlgemerkt.

Nächste Woche steht eine Leitungssitzung bevor, auf der alles besprochen wird – auch, ob Weckherlin Manfred Karges Stück „Die Kellerfische“ oder einen anderen Text eigens für die Tour inszenieren lassen darf.

Insgesamt ist Weckherlin eher skeptisch. Bei der Disposition werden die Bedürfnisse seiner Organisationstruppe (mit ihm sitzen der Dramaturg Stefan Schnabel und die Regieassistentin Elisabeth Gabriel im Zimmerchen über der Probebühne) als letzte berücksichtigt, denn so richtig zum BE gehört das Tournee-Ensemble eben weder personell noch konzeptionell.

Abgesehen davon, daß die Inszenierungen, die in den Dörfern der näheren und weiteren Umgebung als „Gastspiele des Berliner Ensembles“ plakatiert werden, in dieser Form und Besetzung nie im Stammhaus zu sehen sind oder waren, hat Weckherlin auch andere Ziele: Er verfolgt ein „volkstümliches Theater“ und nimmt das Bedürfnis nach Unterhaltung ebenso ernst wie das Gespräch mit dem Publikum nach der Vorstellung.

Im Westen würde das nicht funktionieren

„Manchmal fragen die Leute einfach danach, wie man denn Schauspieler wird, aber bei Aufführungen von ,Ich bin das Volk‘ etwa merkt man in der früheren DDR auch die Sucht der Menschen nach Auseinandersetzung. Ich könnte eine solche Unternehmung nie in Schleswig-Holstein oder Niedersachsen machen. Da wäre der Wunsch nach Gesprächen gar nicht vorhanden.“

Viel mehr als ein „Schnörkel am Alltag“ (Friedrich Luft) sind die Gastspiele auch und vor allem in den Vollzugsanstalten. Nach einer Aufführung der „Kahlen Sängerin“ in der JVA Tegel bekam Weckherlin einen langen, dankbaren Brief von einem, der jede Bewegung der Schauspieler aufgesaugt hatte – als Nachrichten aus einer Kunstwelt, die auf die richtige Welt verweist. Natürlich und leider: Die wenigsten der Gefangenen dürfen solche Vorstellungen besuchen. Und keineswegs von allen Gefängnisleitungen, die Weckherlin anschreibt, kommt auch eine Reaktion.

Das Berliner Ensemble und seine Tournee-Truppe gehören nur lose zusammen, doch nutznießen sie gegenseitig durch jeweiligen Imagegewinn. Was wird also 1996, wenn die Lottogelder aufgebraucht sind?

Ohne Lotto wird wohl niemand mehr touren

„Das, was die BE-on-tour-Truppe macht, findet das Haus gut“, meint Weckherlin. „Alleine können sie es sich aber nicht leisten, sagen sie. Vielleicht weil sie nicht kunstvoll genug mit ihrem Geld umgehen. Sicher scheuen sie auch die Mehrarbeit; es ist eine Frage der Organisation, und da ist dieser Apparat hier sehr müde, schlapp und lahm.“ Und wenn es einen Nachschlag von Lotto gibt? „Dann machen sie bestimmt weiter, aber mit einem anderen Konzept. Sie werden dann wohl Stücke aus dem Programm des Haupthauses auf Tour schicken.“

Doch dem 31jährigen Hamburger Weckherlin, der nach Studium und journalistischer Arbeit im Januar 1994 als Hospitant zu Peter Zadek ans BE kam, ist dieses Hauptprogramm zu wenig sinnlich, zu wenig „dran an den Menschen“. Er versteht sich nicht als Theoretiker, sondern als Macher.

Als solcher hat er für nächste Woche auch schon Umbesetzungsproben angesetzt, obwohl er nicht weiß, wer überhaupt besetzt werden kann. Und ab 15. 9. ist das Tournee-Ensemble auftrittsbereit. „Ich bin das Volk“ wird bis dahin wohl stehen. Und alles weitere wird sich zeigen.

Kontakt: Thorsten Weckherlin, Telefon: 288 81 57