Das Rolls-Royce-Rad

■ Nostalgieräder sind die Alternative zum High-Tech-Boom. Die 20 Kilo Velo ohne Schaltung erfordern Wadenstärke

Ein Fahrrad für den Großstadtdschungel und die Niederungen der Berliner Forsten hat bald jeder. Doch seit einiger Zeit werden auch wieder Velos angeboten, die an die Ursprünge des Fahrrads angelehnt sind und wenig bis gar nichts mit den grobstolligen High- Tech-Monstern dieser Tage zu tun haben. Eine Form davon wird unter dem Namen „Hastings Classic Cycles“ in der Schöneberger Winterfeldtstraße verkauft.

„Zu uns kommen gerade die Leute, die keine Lust mehr auf top- gestylte oder hochtechnisierte Räder haben, sondern die einen einfach zu bedienenden fahrbaren Untersatz haben wollen“, beschreibt Olaf Stüber seine Kundschaft. „Diesem Ansinnen kommen wir mit unserem Angebot entgegen. Unsere Räder sind für Menschen, die sich schnell und doch ohne Hast in ihrem Viertel bewegen wollen.“ In einer Fahrradzeit, die dominiert wird von Trekking-, Mountain- und sonstigen Bikes, setzen er und sein Geschäftsführer Wolfgang Wallach auf den Trend zur Nostalgie.

Hauptschlager ihres inzwischen sechs verschiedene Oldtimer umfassenden Programms ist das „Avon“, ein in Indien hergestelltes Fahrrad, das nach englischem Vorbild seit 60 Jahren unverändert gebaut wird. Schon der Anblick dieses Fahrrades ist ungewöhnlich, es wurde nicht anhand eines Ergonomieprogramms entworfen. Während es in Indien zum alltäglichen Straßenbild gehört, kann man hierzulande damit noch die Aufmerksamkeit erregen, die selbst der bunteste Mountainbiker nicht mehr bekommt. Das liegt auch an der durch Minimalistik bestimmten Ausstattung des Rades. Schon die Testfahrt zeigt: Fahrradfahren in den noch nicht hochtechnisierten und -frisierten Zeiten hat viel Beinarbeit erfordert. Die von Gangschaltung und geringem Fahrradgewicht verwöhnten Beine staunen nicht schlecht, wenn sie auf einmal 20 Kilo ohne Schaltung in Bewegung setzen müssen. Das hat aber auch sein Gutes: Da diese Umstände nicht zum Rasen animieren, hat der Rest des Körpers Zeit genug, sich an die hierzulande schon fast ausgestorbene Gestängefelgenbremse zu gewöhnen. Diese ist eben doch etwas länger als die heute üblichen Bremsen und braucht auch länger, um die sich in Bewegung befindliche Masse abzubremsen. Mit ihren, vom heutigen Stand der Technik weit entfernten Fossilien scheinen Olaf und Wolfgang genau den Nerv der Zeit getroffen zu haben. So fährt nicht nur der Schauspieler Otto Sander mit einem Pedal-Oldtimer, sondern auch „Unser Lehrer Dr. Specht“, wie man sich ab Januar nächsten Jahres in der Glotze überzeugen kann. Seit Juli 1993 konnten sie 1.400 Stück unters nostalgisch angehauchte, wadenkräftige Volk bringen. Daß diese Spezies nicht nur in Deutschland zu finden ist, belegen Nachfragen und Bestellungen aus Österreich, Holland, der Schweiz und sogar Finnland. „Für das Avon spricht, daß bei ihm das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt“, erklärt Wallach den Boom. „Wo findest du heute noch ein Rad für nur 485 Mark, das nicht gleich an der nächsten Ecke auseinanderfällt?“

Der Erfolg des Avon animierte sie dazu, ihr anfänglich nur auf dieses Fahrrad beschränkte Programm auf andere Nostalgiker auszudehnen. So verkaufen sie inzwischen, neben dem ursprünglichen Klassiker „Gazelle“-Hollandrad, auch Fahrräder ähnlicher Bauart aus Großbritannien und Italien. Diese sind aufgrund der höheren Lohnkosten dreimal so teuer wie das Avon. Außerdem werden, im Gegensatz zu den indischen Avons, die britischen „Pashleys“ oder die italienischen „Cyclo Deis“ nur in sehr geringer Stückzahl hergestellt und sind ausnahmslos handgefertigt. „Dadurch wird das Fahrrad gleichzeitig zu einem Wertgegenstand, dessen größter Vorteil in seiner Schlichtheit liegt“, propagiert Wallach. Diese Räder sind in seinen Augen gerade für solche Menschen geeignet, die gern mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren möchten, dafür aber nicht unbedingt ein Rennrad oder Mountainbike brauchen. „Gerade für Rechtsanwälte oder Beamte, die ordentlich gekleidet auf der Arbeit erscheinen müssen, trotzdem aber etwas für sich und die Umwelt tun wollen, sind unsere Räder aufgrund ihrer kleiderschonenden Verkleidung ideal“, umschreibt Stüber den anvisierten Kundenkreis. Trotzdem will er die Fahrräder weniger als ein Pendant zur Kleidung sehen, sondern eher „als einen Ausdruck für eine bestimmte Form der Lebenskultur“.

Eine andere Form des Klassikers stellen die ursprünglich aus Amerika stammenden „Beach- Cruiser“ dar. Diese als Vorläufer des Mountainbikes angepriesenen Räder werden, im Gegensatz zu den Hastings Classic Cycles, zwar in ihrer alten Form, aber häufig schon mit der bei Mountainbikes üblichen Ausstattung angeboten. Trotzdem ist der „Beach-Cruiser“ ein Fahrrad zum gemächlichen Dahingleiten: Seine Bauweise gestattet keine schnellen Sprints. Weil er jedoch Bequemlichkeit bietet, ist die Nachfrage groß: „Wir könnten viel mehr verkaufen, wenn die Händler bloß schneller liefern würden“, beschreibt Wilfried Lippke vom Fahradladen FTL die Situation. Seit Jahresbeginn hat er 15 Stück davon verkauft. Das hört sich zwar nach wenig an, „aber die Mountainbikes liefen am Anfang noch viel schlechter“.

Daß sie, ebenso wie die Mountainbikes, inzwischen zu einem Modefahrzeug herangereift sind, beweist die Tatsache, daß man sie unter anderem schon in den Fahrradabteilungen mehrerer Kaufhäuser finden kann. Dort stehen sie zwar noch etwas verschämt hinter den Mountain- und Trekkingbikes, aber auf jeden Fall wissen die VerkäuferInnen schon, was mit „Beach-Cruiser“ gemeint ist. Eins hat der „Beach-Cruiser“ allerdings mit seinen geländegängigen Nachfolgern gemeinsam. In dieser Stadt findet man nicht das Gelände, worauf im Namen doch ausdrücklich hingewiesen wird. Norbert Seeger

Probefahrten: Hastings Classic Cycles, Winterfeldtstraße 20

FTL, Rheinstraße 61