: Landtag arbeitet Chaostage auf
■ Niedersächsisches Parlament lehnt Entlassung des Innenministers ab und setzt Untersuchungsausschuß ein
Hannover (taz) – „Der Innenminister als Sicherheitsrisiko – die Kapitulation des Rechstsstaates“, lautete der vollmundige Antrag, mit dem die CDU in der gestrigen Sitzung des niedersächsischen Landtages die „unverzügliche“ Entlassung von Polizeiminister Gerhard Glogowski durchsetzen wollte. Erwartungsgemäß erkannten die Sozialdemokraten in ihrem Genossen kein Sicherheitsrisiko, der Landtag lehnte mit den Stimmen der absoluten SPD-Mehrheit und der Grünen den Antrag ab.
Aber zumindest den ebenfalls von der CDU beantragten Untersuchungsausschuß zu den Jugend- und Polizeikrawallen vom 3. bis 5. August in Hannover wird es nun geben. Er soll sich nach Meinung der CDU mit der „Bilanz des Schreckens“, mit Details des Polizeieinsatzes, mit „Barrikadenbau, Plünderungen und Brandstiftungen“ beschäftigen. Auch Gerhard Schröder zeigte gestern, das er da noch Erklärungsbedarf hat: „Wer mit der Absicht, Chaos zu veranstalten, nach Hannover kommt, den muß die ganze Härte des Rechtsstaates treffen“, drohte der Ministerpräsident den Punks schon mal vorsorglich für 1996. Eine Deeskalation sei bei den Chaostagen nicht möglich gewesen, „weil die Polizei keinen Partner für einen Dialog hatte“. Den „nicht dialogfähigen“ Punks gab er zu verstehen: „Es kann Treffen dieser Leute geben, aber niemals Chaostage.“
Von der grünen Innenpolitikerin Silke Stokar mußte sich Schröder gestern belehren lassen, daß es auch durchaus friedliche Punk- Treffen gegeben habe, wie die letzten Münchner Chaostage etwa. Selbst in Hannover habe es Anfang August trotz der Massenverhaftung aller Bunthaarigen auch noch den Dialog gegeben. Am dritten der chaotischen Tage, als längst das stadtweite Punkverbot galt, gab es am Nachmittag „Luft für Vermittlungsgespräche“, sagte Stokar, die Punks bauten freiwillig ihre Barrikaden in der Nordstadt wieder ab.
An den Chaostagen haben man es vor allem versäumt, Räume für das Treffen zur Verfügung zu stellen, kritisierte sie und verlangte mit Blick auf das kommende Jahr: „Chaostage sind jedenfalls polizeilich nicht lösbar. Politiker, Sozialarbeiter, Punks und Polizei sollten sich zusammensetzen und gemeinsam einen Rahmen für zukünftige friedliche Punk-Feten entwerfen.“
Nach der gestrigen Rede des niedersächsischen Innenministers Glogowski steht allerdings zu befürchten, daß daraus nichts wird. Der Innenminister will nun durch eine Änderung des niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes jene Vielzahl von Rechtsverstößen, die seine Polizei an den Chaostagen begangen hat, im nachhinein legalisieren. Er will sein Polizeigesetz „generalpräventiv ausbauen“. Im nachhinein „gesetzlich normiert“ werden müsse jetzt „das Aufenthaltsverbot“, das allerdings schon dieses Jahr galt. Immerhin hat der Bundesgrenzschutz 1.300 wirkliche oder vermeintliche Punks schon am Bahnhof postwendend wieder auf die Heimreise geschickt. Gerade dieses Aufenthaltsverbot, das die Punks nie zur Ruhe kommen ließ und das für sie jeden auch nur von weitem nahenden Polizisten zum Feind machte, nannte Glogowski in der Rückschau das „wirksamste Mittel“ der Polizei.
Natürlich will der Innenminister auch bei der Ingewahrsamnahme der Punks künftig freie Hand: Auf vier Tage soll die zulässige Dauer dieser präventiven Inhaftierung ausgedehnt werden.
Nach Aufassung der Grünen sind die Jugendlichen allerdings durch die Verfassung geschützt. In 723 Fällen, in denen die Polizei Punks ohne Vorführung vor einen Richter mehr als acht Stunden festgehalten habe, sei nicht nur gegen das niedersächsische Gefahrenabwehrgesetz, sondern auch gegen Artikel 104 des Grundgesetzes verstoßen worden, erklärte die Stokar. Letztlich werden die Verwaltungsgerichte diese Frage klären: Mehrere betroffene Punks bereiten gegenwärtig Klagen wegen ihrer Haft in einer ehemaligen Kaserne vor.
„Wir weigern uns, zuzulassen, daß der Rechtsstaat die weiße Fahne hißt“ – mit solchem Pathos bestritt gestern CDU-Fraktionschef Wulff die Chaostage-Debatte. „Straßenterror, Plünderungen, Brandstiftungen mit Millionenschäden“ waren für ihn die „Schreckensbilanz des Chaoswochenendes“. Real liegen nach den aktuellen Angaben des Innenministeriums die Schäden an staatlichem und privatem Besitz allerdings nur bei nunmehr 700.000 Mark.
Christian Wulff war an den Chaostagen natürlich „vor Ort“ und hat dabei sogar eine Mutprobe abgelegt: „Ich stand da mit 150 Punkern und wurde mit Wasser bespritzt, und das hätte auch Salzsäure sein können.“ Jürgen Voges
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen