Ein Armenhospital, das keines sein soll

Das „Krankenhaus am Urban“, eine soziale Institution in Kreuzberg, begeht das fünfundzwanzigjährige Jubiläum des Neubaus und hat angesichts von Bettenkürzungen eigentlich keinen Grund zum feiern  ■ Von Tim Köhler

Eine Gruppe Penner sitzt auf der Bank am Landwehrkanal, unmittelbar vor dem Krankenhausportal. Die Männer trinken Rotwein aus riesigen Flaschen. Daneben picknickt eine türkische Familie auf der Wiese. In ihrer Mitte sitzt das Familienoberhaupt im Rollstuhl mit einer Binde um den Kopf. Einige Meter weiter steht ein Bett, das jemand von der Station hinuntergefahren hat. Das kranke Kind soll auch etwas Sonne abbekommen.

Das Krankenhaus steht mitten im dichtbesiedelten Kreuzberg. Es herrscht eine ungewöhnlich entspannte Atmosphäre für ein Großkrankenhaus. Auch im Innern geht es leger zu: Niemand kontrolliert die Einhaltung der Besuchszeit. Ärzte und Schwestern duzen sich. Tätowierte Patienten sitzen im Treppenhaus und rauchen trotz Rauchverbot.

Für Brigitte Walter, Abteilungsleiterin der Rettungsstelle, ist das Kiezkrankenhaus eine „soziale Institution“. Der Anteil hilfesuchender alter Leute sei im Urban besonders hoch. „Es gibt Patienten, die kommen nur aus sozialer Indikation zu uns. Wir weisen niemanden ab.“ Zwei Sozialarbeiter arbeiten auf der Rettungsstelle, ein weiterer Sozialarbeiter nur für Suchtkranke ist beantragt.

Jede zweite Frau, die im Urban- Krankenhaus entbindet, ist eine Türkin. „Bei ihnen haben wir einen guten Ruf“, sagt die Hebamme Michaela. Vereinzelt kommen Frauen aus der Türkei angereist, nur um hier zu entbinden. Den vier- bis fünftägigen Aufenthalt im Wochenbett genießen sie. Für ein paar Tage sind sie ohne Hausfrauenpflichten und können sich erholen.

Das Kriseninterventionszentrum mit sechs Betten versteckte kürzlich eine junge türkische Frau vor ihrem Vater, der sie erschießen wollte, wenn er sie fände, und verhalf ihr so zur Flucht vor ihrer Familie.

Eigentlich wären das Dinge, die man anläßlich des fünfundzwanzigjährigen Bestehens des Krankenhausneubaus feiern könnte. Aber die Krankenhausleitung denkt nicht daran. „Wir sind kein Armenhospital“, sagt Frau Dr. Boedefeld vom Referat Ärztliche Leitung. In der Festbroschüre kann man statt dessen lesen, daß ein Professor Weißbach 1984 die Abteilung für Urologie modernisierte und den Bau eines modernen transurethralen Trakts initiierte. Und dergleichen mehr. Dort steht nichts von der besonderen Patientenstruktur des Hauses. „Wir wehren uns gegen den Ausdruck Armenhospital. Es schadet unserem Ruf. Womöglich schneiden wir dann in späteren Planungen finanziell schlechter ab“, heißt es in der Krankenhausleitung. Das Haus führt deshalb auch keine Statistik über die Zahl von Sozialhilfeempfängern unter den Patienten.

Jährlich kommen 1.500 Drogenabhängige in die Rettungsstelle des Urban-Krankenhauses. Hinzu kommen weit mehr Alkoholabhängige, psychisch Kranke, Obdachlose, verarmte Alte. „Wir sind ein Armenhospital mit einer Armenambulanz“, sagt Oberarzt de Ridder. Er ist ein vehementer Kritiker der Krankenhausleitung. Sie leugne die spezifische „Kreuzberger Realität mit der ganz besonderen Klientel“. Das habe zu tun mit dem ärztlichen Selbstverständnis hierzulande: Ärzte wollen unbedingt heilen und sich mit Hochleistungsmedizin profilieren. Beides können sie mit Junkies und chronisch Kranken nicht.

Bisher vergeblich versuchte der Oberarzt, eine Drogenambulanz in der Klinik zu etablieren. Das Projekt scheiterte an fehlenden Räumlichkeiten im Haus und im Bezirk sowie an der Intervention der Kassenärztlichen Vereinigung, die eine Konkurrenz für die niedergelassenen Ärzte befürchtet.

Die Krankenhausleitung läßt feiern, ohne eigentlich einen Grund dafür zu haben. Denn die Zukunft des Urban ist ungewiß. Gelder für Investitionen in die gewünschte High-Tech-Medizin fehlen. Dementsprechend trotzig fällt das Grußwort des ärztlichen Leiters Dr. Griebner in der Festschrift aus: „Trotz mehrfacher politischer Hiobsbotschaften und gezielter Unkenrufe aus den Reihen eigener Mitarbeiter setzen wir auf ein goldenes Jubiläum im Jahre 2020.“

Fakt ist, und das wird nicht einmal von der Krankenhausleitung geleugnet: Das Urban baut in den nächsten drei Jahren dreihundert Betten ab – jedes fünfte also. Weitere Reduzierungen sind vorgesehen. Das zieht Stellenkürzungen nach sich, dann auch Verringerungen von Investitionsgeldern. Und: der gefeierte Neubau ist schon sanierungsbedürftig. Der Senat „verifiziert derzeit, inwieweit Sanierungen notwendig sind. Abschließend können wir aber erst Anfang nächsten Jahres etwas sagen“, so der Pressesprecher des Senators für Gesundheit, Dr. Herrmann. Der Senat hält sich bis nach der Wahl bedeckt. Das nährt Gerüchte, daß gar ein Abriß des gesamten Neubaus droht. Wenn überhaupt, würde dann an derselben Stelle ein viel kleineres Haus errichtet. Frau Boedefeld nennt derartige Gedanken „Ausdruck einer Hysterie beim Personal.“

Wie will das Krankenhaus im schärfer werdenden Wettbewerb seine Zukunft sichern? Gerhard Engelmann (CDU), Gesundheitsstadtrat in Kreuzberg, sieht den größten Erfolg in dem geplanten Aufbau einer psychiatrischen Tagesklinik im Urban-Krankenhaus. Bisher ist aber nur eine Million Mark bewilligt worden. „Viel zuwenig“, so Frau Boedefeld.

Besonders hebt der CDU- Stadtrat hervor, daß die Klinik eine Patientenbibliothek hat. Sie sei großartig. Überhaupt sei das Urban „ein funktionierendes Krankenhaus“, „mit hervorragenden Leuten“, „mit guter Stimmung“, „um das wir kämpfen“. Es gebe nur „Einzelprobleme“. Dann erwähnt er noch das „renommierte Brandverletztenzentrum“ und vergißt beinahe hinzuzufügen, daß es bald schließen wird, weil ein anderes in Marzahn errichtet wird.

Es gibt ganz unterschiedliche Auffassungen im Urban-Krankenhaus darüber, wofür das Krankenhaus da ist. Wer es primär als soziale Nische und Begegnungsstätte betrachtet, hätte sogar etwas zum Feiern. Aber das sind gerade die Kritiker, und die wollen nicht feiern. Die Krankenhausleitung feiert, weil sie feiern will, obwohl sie genau weiß, daß sie nichts zu feiern hat.

Übrigens hat das Urban, wie alle Krankenhäuser, vor hundert Jahren als Armenhospital angefangen. Aber nicht aus Barmherzigkeit: Die Reichen ließen sich die Ärzte lieber nach Hause kommen. Die rechtlosen Armen in den Hospitälern waren für die Mediziner willkommene Lehr- und Versuchsobjekte. Ein Krankenhaus kann Elend von der Straße wegnehmen. Das Elend beseitigen kann es aber nicht.