Wechsel der Welten

Wenn er sein Bein wegwirft, erlebt Hochspringer Gunther Belitz einen „Moment natürlicher Metamorphose“  ■ Von Oliver Kauer

Duderstadt (taz) – Gunther Belitz steht exakt 9,70 Meter vor der Hochsprunganlage. Scheinbar abwesend nickt er mit dem Kopf. Noch einmal geht er den nun folgenden Bewegungsablauf imaginär durch. Anlauf, Absprung und Lattenüberquerung. Es scheint, als könne ihn nichts mehr ablenken von seinem Vorhaben, den „Feind Latte“, wie er es beschreibt, „zu bezwingen“. Das rhythmische Klatschen der nahen Zuschauer – rund 1.500 sind wohl gekommen – steigert die Spannung. Die Latte liegt bei 1,81 Meter.

Gunther Belitz löst seine Beinprothese und stützt sich mit dem linken Arm auf ihr ab. So hält er, dem nun nur noch das rechte Bein bleibt, die Balance. Belitz (32) ist der erfolgreichste oberschenkelamputierte deutsche Hochspringer. Fast achtlos läßt er jäh sein Kunstbein fallen und humpelt, wie er hernach selber meint, in der Art eines Känguruhs auf die Latte zu. Der Absprung ist kräftig, aber der Armeinsatz ein bißchen schwach. Die Vorwärts-Rolle über die Latte, der „Tauchwälzer“ ist die biomechanisch günstigste Sprungtechnik für Oberschenkelamputierte. Diesmal mißlingt sie. Belitz schafft die Höhe an diesem Nachmittag im Stadion in Duderstadt bei Göttingen nicht mehr. Mit übersprungenen 1,78 Metern gewinnt der Leichtathlet aus Münster (Bestleistung 1,85 Meter) dennoch erwartungsgemäß in seiner Schadensklasse den Wettbewerb bei den „Paralympics Revival“.

Das Ablegen seines Kunstbeines ist für Belitz automatisiertes Teil seines Vorbereitungsrituals. Dem Zuschauer Martin aber, der zum ersten Mal Behindertensport live erlebt, erscheint das Gesehene „makaber“. Zunächst. „Mir lief ein Schauer über den Rücken“, sagt er. Später relativiert er: „Auf den zweiten Blick ist es eher faszinierend. Und die Leistung begeistert.“

Gunther Belitz ist Sprecher der Aktiven im Deutschen Behinderten-Sportverband (DBS). Der Weltmeister im Hochsprung 1986 und 1994 scheut keinen Diskurs. Auch nicht den, das Gefühl des Tragens und kurzfristigen Ablegens seiner Oberschenkelprothese zu erörtern. Wie empfindet er, der vor dem Sprung das Komplettsein zu zelebrieren scheint, diesen Moment? Als Verlust? Als Gefühl des Nicht-mehr-komplett-Seins? Für ihn, sagt er, sei dieser Vorgang schlicht naturgemäß. Belitz ist unter den oberschenkelamputierten Hochspringern aber der einzige, der sein künstliches Bein in die Anlaufvorbereitung miteinbezieht.

Die anderen nutzen meist Krücken, um längere Zeit auf einem Bein stehen und sich auf den Sprung konzentrieren zu können. „Die Krücken sind ein stigmatisierendes Gerät“, sagt aber Belitz. Sein Bein gehöre zu ihm, und er lege es erst ab, wenn der sportliche Bewegungsablauf zum Hochsprung unmittelbar bevorstehe. „Es ist ein Wechsel zwischen zwei Welten, ein Wechsel zwischen der Zweibeiner- und der Einbeinerwelt“, sagt Belitz. „Die Metamorphose ist im Akt des Beinweglegens angelegt.“ Ihm gefalle der einbeinige Bewegungsablauf. Weil er „natürlich“ sei. „Und“, fragt er, „wer sonst kann schon zwischen zwei Welten wechseln?“

Die Wahl zwischen den beiden Welten erfolgt im Moment des Ablegens. „Man steht an einer Scheidewand, im positiven Sinne“, sagt Belitz. Der Übergang bereite ihm Spaß. Er könne, was die Mehrheit der Menschen nicht vermag. Das einbeinige Humpeln ist ihm nicht unangenehm. „Vom Körper- Imago hat dies nichts mit einer Behinderung zu tun.“ Es sei halt einfach nur sinnvoller, weil sportlich aussichtsreicher, mit einem Bein zu springen. Der Fall der Prothese auf den Boden ist für ihn der Startschuß zur neuen, 19,40 Meter langen Hochsprungwelt. Der „virtuose Wechsel“ in die Einbeiner- Welt ein sich regelmäßig wiederholendes Ritual.

Es ist ein Ritual, das er dem Weitsprung vorzieht. Obwohl er dort mit Prothese springt. Obwohl er den 1992 bei den Paralympics gewann. „Es ist viel schöner“, sagt Gunther Belitz, „nach einem kurzen Anlauf auf einer weichen Matte zu landen, als nach einem langen Anlauf im Dreck.“