Renaissance der Mundorgel

So viel Miteinander war nie: Die Kelly Family ließ ihr Goldhaar über die Loreley wehen  ■ Von Jan Feddersen

Um 21.43 Uhr hatte sie es endlich geschafft. Sanitäter vom Roten Kreuz zerren Jessica Thoben aus Bingen aus dem hauteng pressenden Pulk in den ersten Reihen, legen die tränenüberströmte, kollabierende Schülerin auf eine Liege und bringen sie in eines der Zelte, in denen mit Infusionen dafür gesorgt wird, daß erhitzte Seelen wie sie wieder auf die Beine kommen.

Und die 13jährige lächelt sogar ein bißchen, als sie auf der Trage um Fassung ringt: Die letzten 25 Minuten des Konzerts wird sie zwar nur akustisch genießen können, dafür aber ein Leben lang, mindestens aber die nächsten Tage, in ihrer Schule erzählen können: Ich fand die Kellys so toll, daß ich besinnungslos geworden bin.

Sonnabend auf der Freilichtbühne an der Loreley, hoch über dem Rhein, wo es so romantisch ist. Die Luft – warm. Der Himmel – grau, schaut nach Regen aus. Annonciert ist ein Konzert, das schon vier Wochen im voraus ausverkauft war. „Zelten, lagern und offenes Feuer verboten“, steht auf den Schildern, die rund um das Felsplateau in die Erde gesteckt wurden. Viele haben sich nicht daran gehalten, man erkennt es an den verkohlten Stellen im Gras: Echte Liebe muß Risiken eingehen, selbst auf die Gefahr hin, von den ansässigen Bauern verjagt zu werden.

Der Wahn gilt einer Formation, die wie keine seit Abba die Gefühle von Jugendlichen mobilisiert, die die Liebe gerade erst entdecken. Seit 20 Jahren schon tingelt die Kelly Family durch (in erster Linie) deutsche Lande, spielte auf Marktplätzen, in Fußgängerzonen oder bei Eröffnungen von Supermärkten. Mit einem Repertoire, das von „Die Freude am Leben kann uns niemand nehmen“ über „La Montanara“ bis hin zu „Mull of Kentyre“ reicht, waren sie mit ihrer Botschaft stets zur Stelle: Die Familie ist nicht tot, Freundschaft soll leben, man kann zusammenhalten und muß sich nicht zerfleischen.

Allein an die Popjugend kam sie nicht heran, die Gruppe, die aus Familienmitgliedern besteht und nichts wirklich hervorragend kann – weder singen noch tanzen, noch musizieren –, doch alle zusammen strahlen eine, wie es seitens des Managements heißt, togetherness aus, daß Eltern froh, Alte sentimental und ihre Nachkommen ganz neidisch werden.

Vor einem Jahr sollte sich dieser Zustand der Chartvergessenheit ändern: Mit der Produktion „Over The Hump“ („Über den Berg“, auch: „Aus dem Gröbsten heraus“) gelang der Einstieg in die Bravo-Bestenliste – das Zaubermittel hieß „Rock“, eine Prise Sprödigkeit in die süßlichen Melodien, und fertig war die Mixtur. Keiner konnte mehr sagen, man wäre meschugge, wenn man sich als Schüler zu den Kellys bekannte. Seither hält sich die CD dort auf, eisern allen Moden widerstehend: Michael Jackson („HIStory“) und Annie Lennox („Medusa“) reichten an sie nie heran.

Selbst die Jungs von Take That haben den Kelly-Berg nicht schleifen können, was Corinna Siebel, 16 Jahre junge Schülerin aus Neuwied, besondere Genugtuung verschafft. Vor anderthalb Jahren, als sie anfing, das „Schicksal der Kellys“ zu verfolgen, ja, sogar einmal nachts vor deren Kölner Hausboot nächtigte (und doch nicht als Familienmitglied aufgenommen wurde, weil etwa 50.000 andere Schüler die gleiche Idee hatten), jedenfalls vor dem Erfolg mit „Over The Hump“, da war sie in ihrer Klasse noch bespöttelt. „Die sehen ja aus wie Mülleimer“, haben sie ihr gesagt. Lange Röcke, verträumte Blicke, Folkloreblusen – das roch nach Plunder. Take That waren schnieker, auch erotischer, und die hatten Sex: „Aber die waren nicht so nett.“

Die Kellys, die seit einem Jahr über Bravo und einen Fankettenbrief mit ihrer Anhängerschaft kommunizieren, waren nicht so grell: „Die kaufen ihre Sachen auch auf Flohmärkten.“ Das wollte das Mädchen, das einmal bei Greenpeace arbeiten möchte und seit Mai damit beschäftigt ist, den Basar ihrer Kirchengemeinde mit aufzubauen, nicht auf sich sitzen lassen: „War schon hart, immer so scheel angeguckt zu werden.“ Jetzt wirkt ihre Miene beseelt: Sie und ihre Gleichgesinnten haben gewonnen. Wer ist schon Take That? Eine Gruppe, die inzwischen auseinandergeflogen ist.

Kelly-Fans wundert das nicht. Die Jungs mit den verruchten Blicken haben sich nicht an den wichtigsten „Kelly-Gedanken“ (Familienmanager Mike Ungefehr) gehalten: „Stelle dich nicht über andere.“ Bei der Großfamilie dagegen „paßt einer auf den anderen auf, da hat jeder seine Aufgabe“, sagt ein Mädchen aus Koblenz zwischen zwei Tambourinübungen auf dem Vorplatz, einem matschigen abgeernteten Maisfeld.

Sieg über Take That, ein Triumph über schwüle Erotik und die Gier nach Fleisch, aber auch einer über die Kultur der Diesels und Chevignons, der Designerklamotten und der Computer. „Bei den Kellys kommt es nicht auf die Sachen an, die man trägt, man will nicht so angeben“, sagt Yvonne Lehr aus Koblenz, 14 Jahre alte Schülerin. Und wichtiger als Computerspiele – Techno wird von der Kelly-Anhängerschaft geschmäht wie sonst nichts auf der Welt – sei das Gespräch, versichert die Koblenzerin.

Um 14 Uhr öffnen sich die Tore zur Freiluftbühne – da rennen sie zu den ersten Reihen, schreien und johlen, einige weinen schon mal ein bißchen. Bis zum Beginn der Liveübertragung durch Premiere sechs Stunden später wird der Graben zwischen Publikum und Bühne gefüllt mit Opfergaben – Briefe („Für Paddy und Angelo – ich liebe Euch. Ulla“), Karten, geklebt auf Luftballons („Am liebsten würde ich mich selber schicken“), gehäkelte Pullover und ganze Völker von Stofftieren – Herzensdinge. Sie werden später, Kelly-Fans wissen und billigen das, in blaue Mülltüten gepackt und in Kinderheime gefahren.

Der Kelly-Zirkus läuft derweil auf Hochtouren. Vater Daniel, der, geschädigt durch einen Schlaganfall, mit dem Handy vom Hausboot aus alles im Griff hat, läßt sich jedes Pressefoto vorlegen, um es freizugeben. Akkreditierungen müssen mit ihm abgesprochen werden. Den Glücklichen winkt ein Plastikpaß mit seinem Konterfei, auf dem „By my permission“ steht. Nichts soll das Image der Familie ins schiefe Licht rücken. Über Geld spricht man nicht, aber die Branche weiß, daß die Kellys nie mehr ins Büro müssen, an

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Schreibtische oder zum Arbeitsamt: 100 Millionen Mark?

Langweilige Fragen. Doch hat Paddy Liebeskummer, John Zahnweh, fühlt sich Maite gar angeödet und möchte lieber ein wenig Abstand von der Familie? Keine Chance, es zu erfahren: Die Familie ist glücklich, wer will, könne aussteigen, teilt das Management mit.

Alle Kellys sind professionell, ja kühl gestimmt auf dem Weg zu ihrer ersten TV-Liveübertragung. Locker schmiert sich Patricia ein Brot, plaudert Barbie mit John und hält Maite ihre Lockenwickler beisammen. Während der „Show“, wie Mike Ungefehr sehr klar das Unternehmen nennt, sitzen alle Gesten auf die Zehntelsekunde, sogar die Kiekser, die sich anhören, als sei singend etwas schiefgelaufen. Die entrückten Gesichter, die Ekstase andeutende Mimik, die Läufe Paddys quer über die Bühne – Zitate anderer Heroen, von Janis Joplin die schüttelnde Mähne, von Bruce Springsteen die Gitarrenhaltung, von den Supremes die Bewegungen des Chors, am Schlagzeug so viel Aktion, als sei die ganze Band mit einer Megadosis Captagon auf die Reise geschickt worden. Das gefällt allen – auch den Eltern, die ihre Kinder begleitet haben.

Haben die Kellys die Bühne wieder verlassen, hat Paddy, das Lieblingsobjekt der Mädchen, sein „Das war affengeil“ ins Mikro angebracht, gucken sie leer, wie Büroangestellte, die routiniert die Stechuhr bedient haben. Man muß Verständnis haben: 200 Konzerte im Jahr, kein Urlaub für den Stab, immer präsent, sogar aus den USA kommen erste Anfragen nach Auftritten – das macht nicht spontaner.

Dem Publikum ist das alles egal. Was soll es sich daran stören, daß die Radiostationen Deutschlands die Kellys viel zu spät auf der Rechnung hatten? Es fühlt mit: Auch die Jungschar fühlte sich übergangen, wie gesagt, von Techno und den anderen Sachen, die nur wenige virtuos nutzen können. Es schunkelt mit zu allen Sing- a-long-Klassikern des letzten Vierteljahrhunderts: „Proud Mary“, „An der Nordseeküste“, „Hiho“ und auch „An Angel“, dem größten Hit der Gruppe. Eine Renaissance der „Mundorgel“, eine Wiedergeburt biedermeierlicher Jungscharkultur: So viel Miteinander war nie. Eine Friedensbewegung der Gutgesinnten, denen Technik nicht geheuer und Mode ein Graus ist. Viele wischen sich Tränen aus dem Gesicht gerade bei „An Angel“, dieser computerentrückten Figur, die für Märchen und Wunder steht und nicht für die nächste Zensurenkonferenz oder das Nachdenken über das, was mal aus dem Leben werden soll.

Als dann noch Angelo, das Nesthäkchen der Kellys, für seinen krächzenden Gesang rauschenden Spontanapplaus bekommt, darf der Abend als gelungen bezeichnet werden: Welcher Junge hat schon je soviel Anteilnahme bekommen für den schlichten Umstand, im Stimmbruch zu sein? Aber bei den Kellys ist eben alles menschlich. Und genau darauf kam es den Yvonnes, Corinnas und Nicoles an, in diesem Sommer, der doch eigentlich nur Techno war.

Beim Abstieg ins Rheintal, hinunter einen stolprigen Weg nach St. Goarshausen, summt die ganze Prozession: „Sometimes I wish I were an angel, sometimes I wish I were You.“ Niemand ist hingefallen. Einige sturmgefönte Jugendliche stehen am Rande. Sie passen nicht hierher, tragen T-Shirts mit der Aufschrift: „Keine Macht den Kellys“. Sie werden nicht beachtet.

Premiere wiederholt das Konzert heute um 15.45 Uhr, außerdem am 2.9. (10.50 Uhr), 13.9. (17.35 Uhr) und 24.9. (8.55 Uhr).