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Bollwerk Bombodrom

Wo die Bundeswehr bomben will, ist Protest erste Bürgerpflicht: Jeden Monat marschieren 400 Menschen gegen den Truppenübungsplatz an  ■ Aus Wittstock Niklaus Hablützel

Diesen Krieg hat niemand gewonnen. Die Bunker und Schützengräben der Roten Armee sind kampflos verlassen worden. Sie zerfallen. Der Wach- und Beobachtungsturm neben der Straße ist vier Stockwerke hoch, offenbar ein wichtiges Bauwerk. Schief steht es und darf nicht mehr betreten werden, Schilder warnen vor Einsturzgefahr.

Mozarts spätes Streichquintett in G-Moll ist vor dieser Kulisse ganz sicher noch nie aufgeführt worden. Die seltsame Idee, eben das zu tun, will als politische Demonstration verstanden werden. Drei Frauen und zwei Männer spielen den ersten Satz. Sie wollen, so sagen sie, mit diesen pochenden Achteln, dem Klagemotiv des Hauptthemas und all den übrigen Abstraktionen des Meisterwerks auf ihre Weise „etwas für den Frieden“ tun.

Ruhe kehrt ein unter den Umstehenden. Vielleicht vierhundert sind heute gekommen zum 29. Protestmarsch gegen das Bombodrom in der Wittstocker Heide. Das Wort „Bombodrom“ ist russisch und also keineswegs eine Erfindung des etwas anstrengenden Humors, der in Protestbewegungen häufig vorkommt.

Das deutsche Gelände, das so genannt wird, liegt eingekeilt zwischen Dörfern, die Schweinrich, Zempow, Flecken Zechlin, Gühlen-Glienicke oder Fretzdorf heißen. Es ist abgesperrt. Blindgänger liegen im Heideboden. Soldaten der siegreichen Sowjetunion haben mit Gewehren, Panzern, Artillerie und Flugzeugen das Schießen geübt und Bomben abgeworfen.

Dasselbe will heute die Bundeswehr tun. Welchen Ernstfall sie nun aber proben will, das ist noch schwerer zu verstehen als die Manöver der Roten Armee. Ein Bundestagsabgeordneter der SPD hat im Wittstocker Wahlbezirk im letzten Jahr sein Direktmandat gewonnen, wohl auch, weil er sich gegen die Erbnachfolge der Armeen ausspricht. Er geht der Asphaltstraße entlang mit dem Demonstrationszug hinaus zum Konzert vor dem Hauptturm. Früher war sie abgesperrt, ein Landrat hat mit dem sowjetischen Kommandanten vor drei Jahren ausgehandelt, daß sie dem öffentlichen Verkehr geöffnet wird. Das Abkommen hat Präzedenzcharakter, „die Bundeswehr war ziemlich sauer“, sagt der Abgeordnete. Aber er will differenzieren. „Nein“, meint er, „die neuen Besatzer sind das nicht, wie manche hier behaupten. Ich stehe zur Bundeswehr.“

Er glaubt nur nicht, daß sie diesen Schießplatz braucht. Den zuständigen Mann im Verteidigungsministerium hat er noch nicht sprechen können. Und die Fraktionsgenossen im Verteidigungsausschuß scheinen ihm eher den Argumenten der Generäle aufgeschlossen zu sein.

Immerhin könnten die 142 Quadratkilometer in der Wittstocker Heide zum größten Zielgebiet für die Übungsbomben der Nato werden. „Out of Area“ heißt eines der Stücke, die nachher im Konzert zu hören sind. Kein Wohlklang, sondern ein Sprechgesang mit Trommeln, komponiert von der Bratschistin des Streichquintetts. Auch der Sozialdemokrat grübelt. „Wenn die hier nur Betonklötze abwerfen wollen, verstehe ich nicht, warum die soviel Geld dafür ausgeben.“

Ob es nur Betonbomben sind, oder scharfe Munition und Raketen wie unter den Sowjets – zwei Monate nachdem im Juni 1992 die Bonner Regierung zum erstenmal davon sprach, den Übungsplatz zu übernehmen, hat sich die Bürgerinitiative „FREIe HEIDe Kyritz- Wittstock-Ruppin“ gegründet. Sie hat in Bonn demonstriert, in Potsdam, in Berlin, und immer wieder mit ihren Wanderungen die Grenze des militärischen Sperrgebietes entlang. Meist beginnen oder enden die Protestmärsche mit einem Gottesdienst in einer der Dorfkirchen. Jeden Monat wird eine andere Route ausgegeben. Die Liste prominenter Redner und Gäste ist lang, Altbischof Storck ist darunter, Ministerpräsident Stolpe auch. Die Bundesratsinitiative des Landes Brandenburg ist dann aber doch gescheitert.

Über 40.000 Unterschriften sind gegen das Bombodrom gesammelt, „5000 Leute sind gekommen damals beim Ostermarsch“, sagt der Vorsitzende der Bürgerinitiative. „Vielleicht läuft sich das ein wenig tot“, sagt er und schaut um sich. Aber er glaubt es nicht. „Die Urlaubszeit ...“

Es hat geregnet, Wolken ziehen, ein nacktes Pärchen nimmt trotzdem sein Morgenbad im Dranser See, frierend. Der See grenzt ans Sperrgebiet. „Da drinnen haben die Russen ihre Panzer gewaschen“, sagt ein Camper und lacht. Dreißig Gleichgesinnte schlafen hier schon eine Woche lang. Sie sind aus Hamburg, Berlin, Köln und auch aus Magdeburg hierher gekommen. Sie haben das Seeufer gesäubert, aus Abfällen und Fundstücken Musikinstrumente gebaut für das Konzert. Der Politologe Wolf Dieter Narr ist aus Berlin gekommen und hat ihnen noch einmal erklärt, wie wichtig das alles ist. „BürgerInnenbewegung in Konfrontation zu Recht und Ordnung“ war der Vortrag überschrieben. Als Narr im Zeltlager sprach, begannen im Landschulheim von Schweinrich die Proben des Ensembles „Lebenslaute“. Noch ein Fall von Konfrontation, ein westlicher. Professionelle Musikerinnen und Musiker geben zusammen mit Laien jedes Jahr ein Konzert mit ernster Musik an einem Brennpunkt des Protests. Die Idee war 1986 vor der amerikanischen Raketenbasis in Mutlangen entstanden und hat das Ende des Kalten Krieges überlebt. Letztes Jahr Gorleben, dieses Jahr die Wittstocker Heide, „wir finden einen Konsens“ sagt die Bratschistin. „Es ist mal was anders“, sagt der Vorsitzende der Bürgerinitiative und begrüßt vorm sowjetischen Beobachtungsturm das „Musikkorps, oder wie soll ich sagen“.

Kein Versprecher ist das. Es geht um einen Kampf. Die Lebenslaute spielen außer Mozart auch Händel, singen von Hiroshima, und haben einen Text von Günter Eich vertont: „Seid Sand, nicht Öl im Getriebe ...“ Nicht alle hören zu, das Konzert ist kein Konzert, es bereitet eine Aktion vor, die Besetzung nämlich der Wittstocker Heide. Seit mehreren Stunden bauen die Männer das Denkmal auf. Es besteht aus Holzpfählen, die rot bemalte Baumstämme tragen. Sie bilden den Umriß des militärischen Übungsgeländes ab, auf gelben Schildern stehen die Namen der Orte, die ihm am nächsten liegen. Ein Windrad steht daneben, leuchtend weiß, und treibt einige der Klanginstrumente an, die im Zeltlager entstanden sind – Glocken aus alten Kochtöpfen und Metallplatten etwa. Anderes muß von Hand gespielt werden, der „Jammerbaß“ zum Beispiel, der ein Plastikkanister mit Axtstiel und Schnursaite ist. Daran haben Kinder jeden Alters sichtlich mehr Spaß als am langsamen Satz des Cellokonzerts von Josef Haydn, oder gar dem vierstimmigen Liedsatz des unvermeidlichen Hugo Diestler.

Stellvertretend für den Protest soll das tönende Gestell stehenbleiben. Es soll zeigen, meinen einige, was sein könnte an Frieden, der nun plötzlich „zivile Nutzung“ heißt. Die Gemeinden denken an den Tourismus, der Konstrukteur des Windrades an die Windenergie. Doch der Weg zu solchen Lösungen ist schrecklich weit. Noch am selben Abend ist das Klangspiel abgeräumt worden von den deutschen Soldaten, die in die russische Kommandantur eingezogen sind. Ein paar Pioniere haben schon seinen Aufbau am verbotenen Ort beobachtet, der Offizier sagt, damit habe die Truppe nun wohl genug Toleranz gezeigt.

Keine Wut in der Stimme. Wovon spricht dieser höfliche Mann? Die paar krummen Holzstämme zehn Meter neben der öffentlich befahrbaren Straße stören niemanden.

Ein Prinzip jedoch ist verletzt worden. Denn der Kommandeur hat mit der Bürgerinitiative ausgehandelt, daß das Protestwerk auf der anderen Seite aufgebaut wird. Nachgeben kommt nicht in Frage, bei Einbruch der Dämmerung wird die Ordnung wiederhergestellt. „Nein,“ sagt er am Ende, „ein Befehl ist das nicht. Das ist meine Überzeugung.“

Soviel Logik hält diese Welt nicht aus. Die Anlagen der einen Armee sind zerstört. Sie sind unbrauchbar geworden, ihre Unordnung ist lebensgefährlich. Von der anderen Armee, die hier antreten soll, ist noch nichts zu sehen. Ein Blick von der Höhe eines dieser verwüsteten Befehlstände zeigt am besten, was ein Krieg unter anderem auch ist.

Das ist der Blick eines tieffliegenden Bomberpiloten. Die Heide dehnt sich bis zum Horizont, beinahe farblos im Licht, nur der schmale Streifen eines fernen Waldes begrenzt das Schlachtfeld. Es ist imaginär selbst im Ernstfall. Der Pilot sieht nicht einmal seine Ziele, er testet nur ein System, zu dem seine Maschine gehört, aber ebenso die Einsatzzentrale und die Beobachtungsposten am Rande. Sie leiten seine Waffe, alles ist genau berechnet.

Ein wenig müde gehen kleine Gruppen und Familien die Straße wieder hinunter ins Dorf. Die Aktion ist gelungen, der nächste Protestmarsch steht schon fest. Und die Kinder werden älter, erzählt eine Arztgattin aus Neuruppin, die können schon bald allein mit dem Fahrrad herfahren.

Solche Sätze bringen einen General um den Verstand. Er kann ja immer nur militärische Feinde bekämpfen. Am besten aus der Luft. Aber Zivilisten sind keine Feinde, sie sind nur hartnäckig.

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