Zerfetzt auf Sarajevos Marktplatz

■ Mindestens 33 Menschen starben bei einem Artillerieangriff auf die bosnische Hauptstadt. Die meisten hatten auf dem Marktplatz nach Brot angestanden. Silajdžić stellt Friedensverhandlungen in Frage. Nato: Vergeltung möglich

Sarajevo (AP/AFP/taz) – Unmittelbar vor einer neuen Friedensmission von US- Diplomaten sind gestern bei einem Granatenangriff auf das Zentrum von Sarajevo mindestens 33 Menschen getötet und 84 verletzt worden. Nach Angaben von Augenzeugen schlug das erste von sieben Geschossen kurz nach 11 Uhr am Eingang eines Obst- und Gemüsemarktes ein. Dieser befindet sich in unmittelbarer Nähe der Markthallen, die nach einem Granatenangriff im Februar vergangenen Jahres geschlossen worden waren. Damals waren 68 Menschen getötet worden.

Der staatliche bosnische Rundfunk meldete unter Berufung auf die Armeeführung, die Granaten seien aus der serbisch kontrollierten Region um Vraca und Lukavica in den Bergen südlich von Sarajevo abgefeuert worden. Der bosnische Ministerpräsident Haris Silajdžić erklärte, die Zahl der Toten werde sich vermutlich noch auf 40 erhöhen. Er schlug die Verschiebung jeglicher Friedensverhandlungen vor, bis die Rolle der Nato geklärt sei. „Wir möchten wissen, was die Rolle der Nato in dieser Sache ist. Werden sie zusehen, bis wir alle umgebracht sind, während sie Waffen von uns fernhalten? Ist Sarajevo eine Schutzzone oder Ghetto für Mordopfer?“ fragte er.

Der „Informationsminister“ der bosnischen Serben, Miroslav Toholj, erklärte in Pale, das Bombardement sei „nichts als ein neuer Versuch der Muslime, eine politische Beilegung des Konflikts im früheren Bosnien zu sabotieren“.

Der Kommandeur der UNO-Truppen in der von Serben belagerten Stadt, General Rupert Smith, ordnete eine Untersuchung an. UNO und Nato hatten nach dem Fall der ostbosnischen Schutzzonen Srebrenica und Žepa an die Serben die massive Verteidigung der verbliebenen vier Schutzzonen aus der Luft zugesichert. Die Stellung, aus der die tödliche Granate kam, wurde nach Angaben der UN nicht ausfindig gemacht. Die Flugbahn der Granate sei nicht von radarballistischen Meßanlagen erfaßt worden. Ein hoher UNO- Beamter erklärte in Sarajevo, Nato-Luftangriffe seien eine mögliche Reaktion. Die UNO hätte in diesem Zusammenhang mit der Nato Kontakt aufgenommen. Allerdings müßten die Urheber des Angriffs zuvor festgestellt werden.

Bundesaußenminister Klaus Kinkel nannte das Massaker auf dem Marktplatz von Sarajevo „unfaßbar“. „Der Tod unschuldiger Menschen, darunter Frauen, viele alte Menschen und Kinder, erfüllt mit Abscheu und Entsetzen.“ Die Tat sei „von der Hand Wahnsinniger gelenkt“ und habe offensichtlich das Ziel, eine politische Lösung für den Konflikt im ehemaligen Jugoslawien zu verhindern. Kinkel verlangte: „Die Urheber dieses barbarischen Anschlags müssen mit allen Konsequenzen für ihr Tun zur Rechenschaft gezogen werden.“

Auch Frankreich hat den Angriff auf Sarajevo scharf verurteilt und sein Entsetzen zum Ausdruck gebracht. Der bosnische Präsident Alija Izetbegović wurde gestern nachmittag zu Gesprächen in Paris erwartet, um mit US-Staatssekretär Richard Holbrooke und anschließend auch mit Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac über eine Lösung des Jugoslawien- Konfliktes zu beraten. gb

Tagesthema Seite 3