Farbenfrohes Arbeitstier

Westliche Schönheitsideale verordnen dem russischen Frauenkörper neue Maße. Das einst verlachte Bild der hübschen, hirnlosen Frau ist neuerdings zum Objekt der Begierde geworden  ■ Von Irena Maryniak

Erinnern Sie sich an die Matrjoschka? Diese glatte, rundliche, verwirrende, eiförmige Figurine, mit einem bunten Kopftuch und hölzernem Rumpf, der aufgeschraubt eine Unzahl immer kleinerer Ebenbilder freigibt? Traditionell war sie die Verkörperung von Rußlands mythologischem Selbstbildnis: Mütterchen Rußland, ein sich selbst verewigender Körper, voller Paradoxa des Auseinandernehmens und Wiederzusammensetzens, Beschränkung und Freisetzung in sich vereinend. Und außerdem beschwor sie das frühere Ideal russischer Weiblichkeit: beruhigend, selbstgenügsam, fruchtbar und unverwüstlich.

Aber wohin jetzt? In Souvenir- Shops oder die entlegenen Ecken der Straßenkioske verbannt, kann die Matrjoschka heutzutage weder das Rußland des freien Marktes noch das daraus entstehende verwirrende Spektrum der Weiblichkeit umspannen. Lange Beine, sechs Zoll hohe Absätze, schwarze Wonder-BHs und nackte Damen auf Eisbärfellen oder im Wüstensand: alle sind sie da, verkaufen Werbeagenturen und Computer oder schmücken die Windschutzscheibe, wo früher Stalins Bild zu sehen war. Plakate der Gesundheitsbehörden warnen mit weiblichem Fleisch vor Aids. Und dann die Schönheitswettbewerbe: „Miss Bein“ (1. Preis: Videorecorder); „Miss Brust“ (1. Preis: Kassettengerät). Treffen Sie Ihre Wahl.

„Als Wählerin, Verbraucherin und Leserin fühle ich mich verloren“, bekennt eine neubekehrte russische Cosmo-Leserin, „ich weiß einfach nicht, was für eine Frau ich sein soll. Eine sagenhafte Kombination aus Blaustrumpf, Johanna von Orléans, Karmeliterin und Marilyn Monroe? Also greife ich nach Cosmo und finde dort ein Frauenbild, das mich durch seinen Geist, seine Intelligenz, durch Verständnis und Toleranz beeindruckt. Ich möchte es ausprobieren – wie ein neues Kleid – und beginne meine lange Reise in die Selbstfindung.“ Mit Cosmo als neuer Bibel sind russische Frauen auf dem Weg von einer altehrwürdigen Ästhetik der Tugend und Erlösung zu einem Schönheitskult, der mit Risiko, Erotik und eigener Entscheidung versüßt ist.

Kulturell verhielt sich Rußland gegenüber dem weiblichen Körper uncharakteristisch spröde. In der religiösen Kunst der orthodoxen Kirche wurde er nur selten dargestellt und später von der radikalen Intelligenz zugunsten soziopolitischer Ideale unterdrückt. Um 1950 weigerte sich ein Leningrader Verlag, eine Fotografie der Venus von Milo in einen Band über Ästhetik aufzunehmen, weil das pornographisch sei. Der offizielle Sprachgebrauch erklärte die sowjetische Gesellschaft für geschlechtslos und asexuell. Die marxistische Emanzipation integrierte Frauen in den Produktionsprozeß und garantierte ihnen politische und bürgerliche Rechte, Zugang zu den meisten Handwerken und Berufen sowie gleiche Bezahlung. „Mama, die Traktorfahrerin“ war bei der Arbeit vielleicht gleichberechtigt und wurde finanziell zur Familiengründung angespornt, aber man erwartete von ihr auch, daß sie ihrer doppelten Rolle in Produktion und Reproduktion gerecht wurde.

Das ernsthafte, kollektiv orientierte sowjetische Stereotyp im grauen Kostüm ist nun aus der Mode, zusammen mit seinem Gegenstück, dem untersetzten Mutter-Ideal. Jetzt überschwemmen westliche Schönheitsikonen den russischen Markt, um die Verbraucher zu fesseln und einen potentiell äußerst einflußreichen Sektor der Bevölkerung für sich zu gewinnen. In Kino und Fernsehen sind Vergewaltigung und aggressive Erotik der letzte Schrei. Früher symbolisierten sowjetische Kinoheldinnen die moralische Festigkeit, Tapferkeit und Widerstandsfähigkeit des Mutterlandes; heute, meinen russische Filmkritiker, spiegelt die vergewaltigte Frau das totalitäre System, das von denen verwüstet wird, die es einst in Knechtschaft hielten. Und natürlich fehlt auch nicht der zarte Hinweis, daß Mädchen es gerne grob haben.

Das sexuelle Spektakel ist ein Aspekt der neuen Förderung und Verbreitung von Weiblichkeit als einer ästhetischen und marktfähigen Ware. Der importierte Schönheitsmythos verspricht Frauen ökonomischen, beruflichen und persönlichen Erfolg, mehr Unabhängigkeit und moralisches Selbstwertgefühl, Selbstentdeckung und Selbstverwirklichung. Er stellt ihre Selbständigkeit, Sexualität und ihr Aussehen auf die Probe, aber nur im Austausch mit der Verinnerlichung eines neuen Glaubenssystems und der finanzstarken Industrien, die es predigen. Alles ist da: die grundlegende Botschaft, Weiblichkeit verlange, daß ihr auf die Sprünge geholfen werde; das Kastensystem, in dem Models den Status eines Wahlsiegers erreichen; der Kreuzzug gegen die Pfunde; die Reinigungsrituale; das Versprechen von Anmut und Rettung durch die spirituelle Vermittlung des Schönheitsprodukts.

Die positive Heldin von heute ist oft eine zweiköpfige Hydra. Ideale der Reinheit, der Mütterlichkeit und der Weisheit untermauern das Bild von der leichtfertigen Verführerin – auf dem russischen Pornomarkt steht sie in unsicherem Gleichgewicht. Das einstmals verlachte Bild der hübschen, hirnlosen Frau, das dem US-Kommerzialismus zugeschrieben wurde, ist jetzt zum Objekt der Begierde geworden. Barbie hat gesiegt, ergänzt durch Bilder von der idealen Frau und Mutter, die für die Familie ackert – schwach, abhängig, räuberisch und tyrannisch zugleich.

Glamour überlagert nun das mühevolle und schwierige Leben der Frauen, die jahrzehntelang aller Intimität, Zeit und persönlichen Unabhängigkeit beraubt waren. Der Feminismus wurde von den Sowjetideologen als bourgeois und als Herausforderung der sowjetischen Männlichkeit und Gesellschaft diskreditiert. Er bildete eine Gefahr für traditionelle Rollen und Persönlichkeitsmerkmale. Seit Mitte der siebziger Jahre schrillten in der sowjetischen Presse die Alarmglocken über die Maskulinisierung der Frauen, über die Schwächung ihrer zärtlichen und nährenden Eigenschaften. In der Vorstellung der Allgemeinheit sind Feministinnen heute gleichermaßen schlampig, rauh, rachsüchtig, machthungrig, unsicher und (im allerschlimmsten Fall) lesbisch. „Westliche Feministinnen haben Zähne wie Haie“, stellte die Schriftstellerin Viktoria Tokareva fest. Machtpolitik gilt allgemein als von Grund auf korrupt, und wenn auch erste unabhängige Frauengruppen auf der Bildfläche erscheinen, so sind sie doch noch zu zersplittert, um eine Bewegung bilden zu könnten.

Russische Frauen haben die Bilder, die sie über lange Zeit durch Religion, Folklore und Ideologie empfingen, zutiefst verinnerlicht; sie alle haben ihnen die Botschaft übermittelt, daß sich das Wesen einer Frau nur in der Mutterschaft erfüllt; daß sich Hausarbeit für Männer nicht schickt; daß die Natur nur den Frauen nährende Eigenschaften gewährt hat, Verständnis, Geduld und Sensibilität. Es gibt so gut wie keine Neubewertung der überkommenen Geschlechterrollen, und die Vorstellung einer selbst konstruierten Identität stößt auf heftigen Widerstand. Das Leben russischer Frauen verstärkt nur das Stereotyp: die Frau ist die sich aufopfernde Hüterin authentischer Beziehungen in einer korrupten Welt und trägt ihre biologisch vorherbestimmte Last – heute nun vermehrt um den zusätzlichen Glanz einer passiven Schönheit und Sexualität im Pin-up-Stil. Seit 1988 haben Schönheitswettbewerbe in Rußland den Status einer angesehenen Tradition erreicht, und die Preisverleihungen werden für Millionen übertragen. Ursprünglich wurden sie als öffentlich-nützliche Institution veranstaltet; sie sollten Geschmack und Selbstvertrauen entwickeln helfen und Rollenmodelle für Familien im Alltag liefern. Heute sind sie zu einer instabilen Mischung aus moralischer Ideologie und sexueller Aufdringlichkeit geworden. Der Erfolg beim Wettbewerb um die Miss Ostsee, so wurde einmal geheimnisvoll angedeutet, könnte dem Meer ökologisch zugute kommen. Schönheit rettet die Welt.

Um bohrende Zweifel zu lindern, bedenke man den täglichen Kampf ums Brot und genieße die Preise: für Pelzmäntel, Uhren, Make-up (für einen Lippenstift kann man mit einem Monatsgehalt rechnen), Kassettenrecorder und Videogeräte. Schönheit ist ein Weg aus der Armut. Plastische Chirurgie steht bereit, um die ästhetischen Mängel zu korrigieren; sie verspricht einen besseren emotionalen, sexuellen und beruflichen Lebensstil – Brustvergrößerung scheint besonders populär. Presseberichte beschäftigen sich mit den erfolgreichen internationalen Karrieren russischer Modelle; Ausländer suchen per Anzeige nach mageren Ehefrauen.

Der Schönheitsmythos ist über die Steppe gefegt, aber er wurde dort durch eine Neubetonung der traditionellen Mutterschaftsbilder ergänzt. Berufstätige Frauen werden mit ihren Kindern fotografiert. Kinderlose und unfruchtbare Frauen haben ihre wichtigste Aufgabe im Leben verfehlt: sie sind mit einem Mangel behaftet. Besser eine unverheiratete Mutter sein; besser sozial machtlos sein, erschöpft, doppelt belastet durch Haus- und Erwerbsarbeit; besser eine biologisch bestimmte Versagerin bei der Arbeit als eine physiologische Seltsamkeit daheim. Frustration und Wut sind besser als Scherbengericht, Spott oder Mitleid.

Das lastfreie, schlanke Ideal ist erst in den beiden letzten Jahrzehnten in Rußland eingedrungen, im Gefolge der städtischen Industrialisierung und der kulturellen Veränderungen. Ländliche Gemeinden setzten Schönheit traditionell mit Umfang gleich (gebärfreundliches Becken, zäh, fest zupackend, ökonomisch gerissen) und taten das auch noch lange nachdem gebildete Bevölkerungsschichten sich westlichen Stereotypen unterworfen hatten. Die Matrjoschka kämpft schwer ums Überleben, und vielleicht siegt sie auch noch über ihre schwache und fade westliche Rivalin. Ein sexuelles Spielzeug kann kein langfristiges Interesse wecken; ein starkes, produktives, farbenfrohes Arbeitstier ist beruhigender und – für schlechte Zeiten – eine bessere ökonomische Anlage.

Aber vorerst, Mädchen, bevor ihr in den Westen gehen wollt, laßt euch von der internationalen Schönheitsexpertin Mary Kaye einen Tip geben. Sie läßt sich inzwischen in Rußland von mindestens achttausend Schönheitsberaterinnen vertreten. Fragt euch selbst: Wie fühlt sich eure Haut an? Und dann zeigt ihr ein Bein. Und lächelt, bitte.

Irena Maryniak ist Osteuropaexpertin bei Index on Censorship