: Absichtliche Geilheit
Pornographie ist für die Kunst, was Prüderie für die Zensoren. Ein Plädoyer für die kreative Schreibfreiheit ■ Von Erica Jong
In jedem Zeitraum der Geschichte gab es in Kunst und Literatur aller Gesellschaften pornographisches Material. Von Epoche zu Epoche – manchmal sogar von Jahrzehnt zu Jahrzehnt – veränderte sich lediglich dessen Fähigkeit, öffentlich zu blühen und legale Verbreitung zu finden.
Nach fast hundertjähriger Agitation für die Meinungsfreiheit müssen wir feststellen, daß die Feinde der Freiheit sich nicht vermindert haben, sondern vervielfacht. Es sind Christen, Moslems, repressive totalitäre Regime und sogar sozial wohlmeinende Freidenker wie Feministinnen, Lehrer, Schulverwaltungen, Bibliothekare. Das sollte uns nicht überraschen, denn wie Margaret Mead vor vierzig Jahren bemerkte, ist die Forderung nach staatlicher Zensur „gewöhnlich eine Reaktion auf eine Gesellschaft mit heterogenen Gruppen von Menschen mit unterschiedlichen Normen und Erwartungen“. Wird unsere Kultur vielfältiger, sind eher mehr Rufe nach Zensur zu erwarten als weniger.
Mark Twains berüchtigtes „1601 oder Kamingespräche der hohen Gesellschaft in der Zeit der Tudors“ fasziniert mich, weil es nicht nur Mark Twains Leidenschaft für linguistische Experimente demonstriert, sondern auch deren Verwandtschaft mit seinem Drang zu „bewußter Unzüchtigkeit“.
Dieser Begriff stammt von Vladimir Nabokov. In einem witzigen Nachwort zu seinem bahnbrechenden Roman „Lolita“ von 1955 verbindet er den Drang zur Schaffung von Pornographie mit „dem Schwung eines guten Dichters in leichtfertiger Stimmung“ und bedauert, daß „heutzutage der Begriff ,Pornographie‘ mit Mittelmäßigkeit, Kommerzialismus und beengten Regeln der Erzählung einhergeht“. In der heutigen Pornographie, sagt Nabokov, „muß die Handlung auf die Kopulation von Klischees beschränkt bleiben“. Poesie kommt niemals in Frage. „Stil, Struktur, Verwendung von Bildern sollten den Leser niemals von seiner lauen Lust ablenken.“
Als Mark Twain sich entschied, in „1601“ aus dem Gesichtswinkel des „Pepys jener Tage, des Mundschenks der Königin Elisabeth“ zu schreiben, versetzte er sich in eine Welt vor Erfindung der sexuellen Heuchelei. Die Elisabethaner waren offen unzüchtig. Sie fanden Körperfunktionen komisch und hielten Sex für eine Anregung der Musen. Die Ironiker der Restauration und die Satiriker des augusteischen Zeitalters zeigten die gleiche Offenheit gegenüber Körperfunktionen und den gleichen Respekt vor dem Eros. Erst im 19. Jahrhundert begann die Prüderie (und die Drohung der Zensur) die Hand des Schriftstellers zu lähmen.
Shakespeare, Rochester und Pope waren zwar politisch weit stärker eingeengt als wir – ging es aber um Sex, brauchten sie ihre Feder nicht in Kondome zu zwängen. Es machte ihnen Spaß, ihre Leser an die essentielle Schmutzigkeit des Körpers zu erinnern. Sie folgten einer klassischen Tradition, die moralische Entrüstung häufig mittels der Skatologie zum Ausdruck brachte. „Oh Celia, Celia, Celia scheißt“, schreibt Swift – als sei sie die erste Frau der Welt, die das tut. In seinen sogenannten „nicht abdruckbaren Gedichten“ entlarvt Swift die Konventionen der höfischen Liebe – und gibt zugleich auch seinem tiefen Frauenhaß Ausdruck –, aber er tut dies in einem Geiste, der Catullus und Juvenal vertraut erschienen wäre. Der Satiriker geißelt die Welt, um die Welt zur Vernunft zu bringen. Sie tanzt den Reigen der Satyrn um unsere Narrheit.
Auch Twains Skatologie dient diesem Zweck, zugleich aber auch dazu, seinen kreativen Prozeß warmlaufen zu lassen, wie eine Art Einspritzdüse. In das prüde neunzehnte Jahrhundert verbannt, sehnte sich Mark Twain nach der Freiheit der Alten. Als er in „1601“ die „bewußte Unzüchtigkeit“ verfocht, beschenkte er sich selbst mit dieser Freiheit.
Interessanter noch ist die Tatsache, daß Mark Twain „1601“ im gleichen Sommer (1876) schrieb, in dem er „sich mit einem neuen Buch abquälte“ – den ersten sechzehn Kapiteln eines Buches, das er dann als „Huck Finns Autobiographie“ bezeichnete. Dieses Zusammentreffen ist kaum zufällig. „1601“ und „Huckleberry Finn“ haben nicht nur linguistische Experimente gemeinsam. Laut Justin Kaplan „enthielten beide implizit eine Ablehnung der Tabus und Kodizes der höflichen Gesellschaft; beide waren Experimente in der Verwendung der Mundart als literarisches Mittel“.
Um die wahre Stimme eines Buches zu vernehmen, muß der Autor die Freiheit genießen, ohne Furcht vor Sanktionen spielen zu können. Alle Schreibblockaden stammen aus übertriebener Selbstkritik, der internalisierten Stimme der kritischen Eltern, die der Phantasie des Autors einreden, er oder sie sei ein schmutziges kleines Wesen. „Ha!“ sagt der Autor, „ich werde mich kühn der Stimme der elterlichen Wohlanständigkeit entgegenstellen und mich losreißen!“ Deshalb hängt der pornographische Geist immer mit ungehinderter Kreativität zusammen. Künstler lassen sich von Schmutz faszinieren, weil wir wissen, daß alles Menschliche daraus erwächst. Menschenwesen treten zwischen Pisse und Scheiße ins Leben, und bei Romanen und Gedichten ist es nicht anders. Nur wenn wir uns der Hemmungen entledigen, die uns vor sozialer Wohlanständigkeit in die Knie zwingen, können wir in die Tiefen des Unbewußten eindringen. Wir bekräftigen unsere Freiheit im pornographischen Spiel. Wenn wir Glück haben, bewahren wir uns diese Freiheit lange genug, um ein Meisterwerk wie „Huckleberry Finn“ zu schaffen.
Aber diese beiden Zwänge stehen nicht nur in Beziehung zueinander; sie sind kausal verknüpft. Als „Huckleberry Finn“ 1885 herauskam, legte Louisa May Alcott ihren Finger genau auf den entscheidenden Punkt dieses Romans, auch wenn sie ihn verdammte: „Wenn Mr. Clemens nichts Besseres einfällt, was er unseren rein denkenden Knaben und Mädchen erzählen kann, dann sollte er nicht mehr für sie schreiben.“ Alcott wußte nicht, daß unsere rein denkenden Knaben und Mädchen eben das nicht sind.
Aber Mark Twain wußte es. Es ist überhaupt keine Überraschung, daß Twain in diesem Sommer schönster skatologischer Schaffenskraft auch der unbotmäßigen Stimme Hucks zum Leben verhalf. Wenn „Kleine Frauen“ nicht so tief greift wie Twains Meisterwerk, dann gerade wegen Alcotts Bemühen um Reinheit. Nettigkeit ist immer der Feind der Kunst. Wenn man sich darüber Gedanken macht, was Nachbarn, Kritiker, Eltern und möglicherweise reingesinnte Zensoren denken, dann wird man niemals ein Werk schaffen, das den Restriktionen des Bewußtseins trotzt und in die Welt der Träume eindringt.
Der Künstler braucht Pornographie als Weg ins Unbewußte, und die Geschichte beweist: Wird diese Erlaubnis nicht gewährt, so wird sie sich genommen. Mark Twain ließ „1601“ als Privatdruck erscheinen. Picasso führte pornographische Notizbücher, die erst nach seinem Tode veröffentlicht wurden.
„1601“ ist absichtlich geil. Es gefällt sich darin, die Atmosphäre der Wohlanständigkeit zu verpesten. Es freut sich an gewaltigen Fürzen, die greulich stinken, und an steifen Pimmeln, bis „die Mösen ihnen die Steifheit austreiben“. Inmitten all dieser Zoten sprechen die Versammelten über vielerlei – über Poesie, Theater, Kunst, Politik. Twain wußte, daß die Muse auf den Flügeln des Furzes daherschwebt, und es machte ihm solchen Spaß, in diesem elisabethanischen Stil zu schreiben, daß der Humor auch noch einhundertzwanzig Jahre später seine Wirkung tut. Ich möchte den sehen, der „1601“ lesen kann, ohne zu kichern und in schallendes Gelächter auszubrechen.
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