■ Die heile multikulturelle Balkanwelt, die ein teuflischer Aggressor stört, ist eine trügerische Wunschvorstellung
: Ethnische Trennung

„Es gibt historische Situationen, in denen verschiedene Nationen, die im Herzen Erinnerungen an Ungerechtigkeiten und den Haß von Jahrhunderten tragen, einfach nicht zusammenleben können. Dann ist das geringste Übel eine klare Trennung zwischen solchen Völkern: eine Grenze ziehen und die Bevölkerungen austauschen.“ So kommentierte Anfang August die unabhängige israelische Tageszeitung Jediot Achronot die mit dem kroatischen Blitzsieg in der Krajina eingeläutete neue Runde von Vertreibungen im dritten Balkankrieg. Nicht zufällig stand diese nüchterne Lagebeurteilung in einer israelischen Zeitung – in Israel hat man zur Problematik des Zusammenlebens verschiedener Völker und Religionen in einem Staat ein etwas realitätsbezogeneres Verhältnis als in Deutschland.

Bei aller hilflosen Wut über die sonst nur von postkolonialen „Stammeskriegen“ weit hinten in der Dritten Welt gewohnten Greuelbilder – sie sollte den Blick auf politische Realitäten und geschichtliche Zusammenhänge nicht ganz verstellen. Sonst verfällt man allzu leicht den trügerischen Wunschvorstellungen einer heilen multikulturellen Balkanwelt, die nur ein teuflischer Aggressor stört, den man „in die Knie zwingen“ muß, damit Frieden einkehrt im geschundenen Ex-Jugoslawien, damit Sarajevo wieder zu dem wird, was es in Wirklichkeit nie war: Modellfall eines multikulturellen Gemeinwesens.

Ach, Sarajevo. An den Ufern der Miljacka sollen sie es vorgelebt haben, dieses Modell für Europa. Juden und Moslems, Katholiken und Orthodoxe im friedlichen Miteinander. In Wirklichkeit war's schon immer ein ziemlich trügerischer Frieden. Das wußten bereits die Herrscher der Donaumonarchie, die Bosnien-Herzegowina 1878 den Osmanen wegnahmen und später einfach annektierten: Geschickt nutzten sie die vorhandenen religiösen Rivalitäten und spielten die Gruppen gegeneinander aus. Später, 1941, mobilisierte ein anderer Österreicher aufs neue den latenten Haß, machte in Groß- Kroatien, zu dem er auch Bosnien schlug, die klerikal-faschistische Führung einer Volksgruppe zum Herrn über Leben und Tod der anderen, mit mörderischen Resultaten, die selbst die abgebrühte SS entsetzten. Das war 1941. Und 50 Jahre Titoismus haben nicht gereicht, den Angehörigen der ethnischen und religiösen Gruppen in Bosnien zu einem jugoslawischen Bürgerbewußtsein zu verhelfen. Jetzt geht der alte bunte bosnische Flickenteppich blutig in Fetzen.

„Die Politik der ,ethnischen Säuberungen‘ ist in Europa wieder hoffähig geworden“, behauptet heute die „Gesellschaft für bedrohte Völker“ und läßt offen, welcher „Hof“ gemeint sei. In Wirklichkeit ist es genau umgekehrt: Die Empörung über gewaltsame Vertreibungen und die mörderischen Umstände ihrer Ausführung ist heute in Europa so allgemein wie nie zuvor. Noch im Sommer 1974, als auf der Insel Zypern der Nordteil „ethnisch gesäubert“ wurde, gab es kaum internationalen Protest, und auch der verebbte schnell. Die Täter, die türkischen Militärs, blieben bei Hofe, in den Hauptquartieren der Nato.

Auf dem Balkan holen die Volksgruppen und Landsmannschaften Jugoslawiens jetzt nach, was die übrigen europäischen Erben der Vielvölkerstaaten Osmanisches Reich und Donaumonarchie etwas früher hinter sich gebracht haben: Sie wollen 1. um nahezu jeden Preis in ethnisch bzw. religiös weitgehend homogenen Nationalstaaten leben und 2. jeder auf einem möglichst großen Territorium. Dies sind die Kriegsziele der Hauptkontrahenten, und eine skrupellose politische Führung versucht sie mit allen Mitteln durchzusetzen. Gesehen aber werden meist nur die grausamen Begleitumstände. Von der Wiederkehr des Faschismus, gar einem neuen Auschwitz geht die Rede, das Jahrhundertverbrechen des Nationalsozialismus wird zur beliebigen Metapher historisiert. Und wann immer die zu Hilfe geholten Schlichter pragmatische Überlegungen anstellen, wie man die Bildung der letzten Nationalstaaten auf dem Balken durch neue Grenzen etwas weniger unmenschlich machen könnte, ist schnell von Appeasement und Zynismus die Rede, vom Lohn der Gewalt. Doch ist es nicht weit zynischer, die Neuordnung auf dem Balkan durch eine brutalisierte Soldateska in neue, mit Sicherheit noch blutigere Runden gehen zu lassen?

Ohne Gewalt ist es auch bei der Grenzziehung und „ethnischen Homogenisierung“ im südlichen Balkan zu Anfang des Jahrhunderts nicht abgegangen. Der erste größere territoriale Verteilungskrieg, der zweite Balkankrieg des Jahres 1913, in dem Serben, Griechen und Bulgaren sich um Mazedonien stritten, dauerte nur drei Monate. Aber er kostete mehrere hunderttausend Menschen das Leben, nur ein kleinerer Teil davon Militärs. Zeitungsberichte aus jener Zeit sind von beklemmender Aktualität: Greueltaten, Massaker, Massenvergewaltigungen und am Ende internationale Kommissionen, die die Kriegsverbrechen im nachhinein registrierten.

Über 80 Jahre sind seitdem vergangen, aber viel weiter ist das „christliche“ Europa immer noch nicht im Prozeß der Zivilisation. Auch die heute mit dem seltsam euphemistisch klingenden Terminus „ethnische Säuberungen“ bedachten Massenvertreibungen gehörten schon damals dazu.

Bulgarien stritt jahrzehntelang mit dem griechischen Nachbarn um mazedonisches und thrakisches Gelände, und bei den „Volkstums“-Kämpfen 1912 wurden Tausende umgebracht, Zehntausende vertrieben. Es ging, vor allem, um den Besitz der nordägäischen Küste, die schließlich an Griechenland fiel. Für die wechselseitigen Minderheiten aber einigte man sich auf einen freiwilligen Bevölkerungsaustausch einerseits und einen vom Völkerbund garantierten Minderheitenschutz andererseits – für die, die bleiben wollten und durften. Fast 200.000 Menschen wurden schließlich umgesiedelt, und auch wenn das Prinzip der Freiwilligkeit auf beiden Seiten nur teilweise durchgehalten und der Minderheitenschutz für die Verbliebenen wieder gekündigt wurde, auch wenn die Bulgaren in den 40ern die Resultate mit Gewalt zu revidieren versuchten – betrachtet man das bulgarisch-griechische Nachbarschaftsverhältnis heute, so muß man sagen: Es war die richtige Politik. Ebenso richtig war der im Vertrag von Lausanne (1923) vereinbarte Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei, der fast zehnmal so viele Vertriebene produzierte – aber er hat unendlich viele Menschenleben gerettet. Schiedsrichter war damals der Völkerbund, weil er ein klares Mandat besaß.

Ein Modell auch für das jugoslawische Inferno? Die internationale Gemeinschaft kann mithelfen beim Aushandeln neuer Grenzen und dabei, die trotz aller schon vollzogenen Vertreibungen noch anstehenden weiteren Umsiedlungen unter zivilisierteren Bedingungen stattfinden zu lassen als bisher. Die Frage ist allerdings, ob die widerstreitenden Interessen der Mächte eine einheitliche Balkanpoltiik heute endlich zulassen. Die Frage ist auch, ob es schon so weit ist, daß sich alle Kriegsparteien jetzt wirklich helfen lassen wollen.