Sanssouci: Vorschlag
■ Das uneigennützige Wunder des Lebens – in einer Ruine zeigt das Zan Pollo „Paradiese 1“
Die Braut, ihren unendlich langen Schleier hinter sich herziehend, erklimmt das Sims und schreitet durch das glaslose Kirchenfenster. Doch anstatt zu fallen, löst sie sich scheinbar auf. Das weiße Tuch folgt ihr ins Nichts, langsam, Zentimeter für Zentimeter. Mit diesem Bild beginnt „Paradiese 1“, und es steckt den Claim klar ab: der Garten Eden ist ein ephemeres Gespinst, jenseits der realen, faßbaren Welt – keine konkrete Utopie, die im Diesseits zu verwirklichen wäre. Eine schnelle, eindeutige Antwort auf eine Fragestellung, die das Zan Pollo noch öfter beschäftigen wird. Der Abend in der Ruine der Elisabethkirche ist der Auftakt zu einem mehrteiligen Projekt, das die Sehnsüchte der Menschen nach ewiger Glückseligkeit quer durch die Jahrhunderte durchleuchten will.
Den Anfang machen – bei Zan Pollo naheliegend – die russischen Absurden. Die „Tschinaris“ liefern das Textmaterial, ein 1925 gegründeter, literarisch-philosophischer Zirkel um Daniil Charms, aus dem zwei Jahre später die legendäre Künstlergruppe „Oberiu“ hervorging. Ein sinniger Einstieg für die Suche nach dem Paradies. Durch ihre Zertrümmerung der Logik schufen die Oberiuten neue Wahrnehmungswelten. Mit der Kombination scheinbar nicht zusammenpassender Partikel setzten sie die Wirklichkeit anders zusammen. Das Leben sei ein „absolut uneigennütziges Wunder“, schrieb Mit-Oberiut Jakov Drushkin in einem Aufsatz über Charms.
Als fünfmonatiges Praktikum statteten StudentInnen der Kunsthochschule Weißensee die Zan-Pollo-Produktion aus – hier zwei skizzierte Kostümvorschläge von Barbara Keiner
In der Elisabethkirche ist der umstürzlerisch komische Lebensentwurf, den die Un-Sinnigkeit impliziert, nur ansatzweise spürbar. Die aneinandergehängten Prosastücke, Monologe und Mikroszenen von Charms, Drushkin, Vvedenskij, Sterligov und Lipavskij ergeben in der Regie von Ilona Zarypow kein Ganzes. Meist stehen die AkteurInnen irgendwo im weiten Kirchenrund, werfen sich Sätze zu oder monologisieren vor sich hin, unterbrochen von Verdi-Arien, die eine Sängerin a cappella durch die Leere schickt. Das geht, trotz Lautstärke, im riesigen Raum unter. Die SchauspielerInnen können den Mangel an verbindenden Bildern kaum wettmachen. Mit den abstrusen Gedankenschleifen wissen sie offenbar wenig anzufangen, Menschen finden sich selten hinter den Texten. Nur Zan-Pollo-Urgestein Anke Rupp und Alexander Heidenreich scheren aus der Routine aus. Wenn er wie ein störrisches Kind behauptet, ein Prinz zu sein, und sie daraus impertinent das Recht ableitet, den Schönen mit Suppe vollspritzen zu dürfen, kommen die absonderlichen Dimensionen unterschiedlicher Weltsicht zum Vorschein.
Anteil am kleinteiligen Verkleckern haben auch die biederen Kostüme. Die für die Ausstattung verantwortlichen StudentInnen der Bühnenbildklasse der Kunsthochschule Weißensee (die als Co-Produzentin fungiert), trauten sich letztlich wenig. Die Männer stecken hauptsächlich in schlabbrigen Anzügen, die Frauen in Abendkleidern. Höhepunkt der Extravaganz ist ein Entenhut. Beim Bühnenbild hingegen stimmt das Konzept. Behutsam unterstreichen riesige Stoffbahnen den monumentalen Charakter des Kirchenschiffs und lassen durch Hochheben oder Wegziehen immer wieder neue Räume entstehen. Kleine Bildzeichen füllen einige Mauernischen. Wenn der Eisblock in der Apsis während der Vorstellung abschmilzt und den Blick auf die darin verborgenen Rosen freigibt – das könnte das Paradies sein. Gerd Hartmann
„Paradiese 1 oder Wenn der Himmel gekrümmt wäre, dann wäre er trotzdem nicht niedriger“, bis 3. und 5. bis 10.9., 20.30 Uhr, Ruine der St. Elisabethkirche, Invalidenstraße 4, Mitte
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