Ein Stadtteil implodiert

taz-Serie „Ortswechsel“ (Teil 6): Aus Kreuzberg SO 36 ist keine Schicki-Hochburg geworden, sondern ein teurer Stadtteil, dem der Absturz droht  ■ Von Uwe Rada

Kreuzberger Zukunftsvisionen nach dem Fall der Mauer, Variante 1: „Ein Luxuswohngebiet am Spreewaldgürtel, Mieten um 25 Mark pro Quadratmeter – kalt, versteht sich. An markanten Stellen des Stadtteils stehen Hochhäuser mit luxuriösen Eigentumswohnungen. Die Lohmühleninsel ist eine Villenkolonie geworden. Der Eintrittspreis für den Görlitzer Park beträgt – je nach Aufenthaltsdauer – zwischen 10 und 15 Mark.“

Oder Variante 2: „In verfallenen Häusern hausen Autonome. Mehr als die Hälfte aller Kreuzberger bezieht Sozialhilfe. Es regiert ein Kiezrat, der einen Steuer- und Mietboykott organisiert. Nach wochenlangen Straßenschlachten zieht sich der Staat aus Kreuzberg zurück. Der Bezirk wird sich selbst überlassen.“

Beide Visionen stammen aus dem Juni 1990. Der – mittlerweile totgeschrumpfte – Verein SO 36 hatte zur Diskussion geladen. Das Thema: „Sind wir noch zu retten“. Damals prognostizierte der Ex- Baustadtrat des Bezirks, Werner Orlowsky, die Entwicklung von Kreuzberg 36 werde sich wohl irgendwo zwischen diesen beiden Polen abspielen.

Heute muß sich Werner Orlowsky korrigieren: „Eine Yuppisierung im großen Stil ist ausgeblieben“, sagt er. Die befürchtete Umstrukturierung der Kreuzberger Bevölkerung sei weitgehend ausgeblieben. „Statt dessen geht die soziale Schere immer weiter auseinander.“ Kreuzberg, resümiert der streitbare Stadtteilrechtler, befinde sich auf dem Weg der Verelendung.

Nur eines unterscheidet die zweite Zukunftsvision von damals von der heutigen Realität: Nennenswerten Widerstand gegen den sozialen und wirtschaftlichen Überlebensdruck gibt es nicht. Die Kreuzberger organisieren keinen Mietboykott. „Die Kreuzberger sparen“, sagt Werner Orlowsky.

Petra K. war schon vor dem Häuserkampf 1980/81 in Kreuzberg SO 36 aktiv. Vor zwei Jahren noch sagte sie, im Bezirk sei vieles offen, ein Wegzug käme einer Niederlage gleich. Heute überlegt sie, Kreuzberg zu verlassen. „Nicht wegen der Yuppies“, die seien das geringste Problem. Es sei das Klima untereinander: Aggression, Gewalt oder die Vorstufe davon: die Demonstration von Gewaltbereitschaft. Es ist vor allem das Macho- Verhalten der jugendlichen türkischen Männer, die Petra K. das Gefühl vermitteln, daß die Stimmung im Bezirk gekippt ist. Sie erzählt von einem Freund, der beim Fahrradfahren auf der Adalbertstraße von einem VW-Bus geschnitten wurde. Kaum hatte er geschimpft, seien mehrere türkische Jugendliche ausgestiegen und hätten ihn zusammengeschlagen.

Fast jeder in SO 36 kann mittlerweile solche Geschichten erzählen. Die anderen Geschichten, die vom Miteinander, von Kollektivität und Widerstand von unten, erzählt kaum mehr einer. „Armut macht aggressiv“, sagt Petra K. und fügt hinzu: „Aber das zu verstehen hilft nicht mehr.“

Eine Kreuzberger Identität gibt es fast nur noch bei den in Kreuzberg geborenen Kindern der Einwanderer. Sie sind stolz, Kreuzberger zu sein. Die anderen zucken mittlerweile mit den Schultern. Der Mythos Kreuzberg SO 36 ist tot. Nur – was ist Kreuzberg nach dem Mythos? Ein aufgewerteter Dienstleistungsbezirk, wie es Bürgermeister Peter Strieder (SPD) gerne hätte. Für Rainer Sauter, lange Jahre Gemeinwesenarbeiter beim Verein SO 36, ist Kreuzberg vielmehr ein Bezirk, der auseinanderfällt. Von innen. „Es gibt keine gemeinsamen Aufgaben mehr“, sagt er, „keine Kiezöffentlichkeit, keine gemeinsamen Zielformulierungen, keine Solidarität.“ Nichts sei mehr im Fluß, nichts mehr in Bewegung. Kreuzberg sei ein tiefes, schwarzes Loch.

Wenn Rainer Sauter nach einem Begriff für den Kreuzberger Lebensalltag sucht, fällt der „Zitronenpreßeffekt“ ein. Das Leben sei teurer geworden, die Mieten in die Höhe geschnellt, der wirtschaftliche Druck, der Müll und der Verkehr nehmen zu. Der Druck wird weitergegeben. Aus Nachbarn sind Konkurrenten geworden. Amerikanische Verhältnisse. Sauter spricht von „Verslumung“. Anders als im bürgerlichen Kreuzberg 61 werde die Lebenswirklichkeit in SO 36 zunehmend von Alkohol, Drogen, Gewalt, Einbrüchen bestimmt. Das Leben in Kreuzberg ist kein politischer Kampf mehr, sondern ein Überlebenskampf.

Aber auch die ethnischen Konflikte nehmen zu, beobachtet Sauter: zwischen Deutschen und Nichtdeutschen, Türken und Kurden, Aleviten und Sunniten.

Alltag in SO 36: Manche sind froh, eine Wohnung für 12 Mark den Quadratmeter zu haben. Längst hat die Zahl der privat modernisierten Wohnungen die der öffentlich geförderten überstiegen. Die Umwandlungswelle von Miet- in Eigentumswohnungen rollt. Die in Kreuzberg erstmalig erprobte behutsame Stadterneuerung ist zwar noch immer gut für einen kommunalen Preis, aber sozial verträglich ist sie nicht mehr: Auch in den staatlich geförderten Wohnungen gibt es Mieten von über 10 Mark den Quadratmeter.

Einschließlich des sozial gemischten Kreuzberg 61 hat der Bezirk mit 2.600 Mark Haushaltseinkommen das niedrigste der Berliner Durchschnittseinkommen. Für Kreuzberg 36 wird das Einkommen nicht gesondert errechnet. In Berlin liegt der Schnitt bei 3.350 Mark je Haushalt. Die Kreuzberger Arbeitslosenquote ist mit 20 Prozent die höchste in Berlin. Vom Sozialamt abhängig sind 13 Prozent der Kreuzberger. 30 Prozent der Jugendlichen fallen unter die Armutsgrenze. Über ein Fünftel aller Haushalte bezieht Wohngeld. Die Obdachlosigkeit steigt. Das Kreuzberger Sozialamt zahlt jährlich 20 Millionen Mark für die Unterbringung Nichtseßhafter in den „Läusepensionen“.

SO 36 ist eine Dunkelziffer. Viele Hauseigentümer, sagen Mieterberater, würden sich bereits wieder aus SO 36 zurückziehen. In den USA nennt man das „redlining“: Auf dem Stadtplan werden Gebiete abgesteckt, in die man nicht mehr investiert.

Von der offiziellen Politik nicht wahrgenommen, steigt die Einwohnerzahl in Kreuzberg stetig. Von 140.000 nach der Wende auf 160.000 heute. „Das erste Bevölkerungswachstum seit langer Zeit“, weiß Ex-Baustadtrat Werner Orlowsky. Doch es sind nur wenige, die in die luxuriösen Dachgeschoßwohnungen ziehen. Den größten Anteil am Bevölkerungswachstum machen diejenigen aus, die Kinder bekommen, aber wegen der Wohnungsnot keine größere Wohnung bekommen. Oder die, die Freunden und Bekannten bei sich Unterschlupf bieten: versteckte Obdachlosigkeit. Orlowsky sagt: „In Kreuzberg rückt man zusammen.“ Wärme entsteht dabei nicht.

Anders als vor dem Fall der Mauer erzeugt der Druck von oben keinen Druck von unten. Eine politische Öffentlichkeit, gar politischen Widerstand gibt es nicht mehr. „Viele der Vorstellungen“, sagt Sauter, „sind implodiert.“ Kreuzberg ist ein politisches Vakuum. Die einzigen, die sich wehren, die Kiezguerilla „Klasse gegen Klasse“ (KgK), kämpfen mit dem Rücken zur Wand. Im Namen einer Arbeiterklasse, die mit Politik nichts mehr zu tun haben will. Und gegen ein Phantom: „Statt sich gegen Yuppies zu wehren, müßte man gegen den Verfall der politischen Kultur kämpfen“, sagt Petra K. Für die autonome Aktivistin ist es ein Zeichen des Niedergangs, daß zahlreiche Künstler den Kiez verlassen haben. Kreuzberg bleibt zurück. „Es gibt nichts Kreatives mehr“, sagt sie. Rainer Sauter spricht von einer „Armutskultur“, die sich in Kreuzberg breitmacht.

Noch vor der Wende stritten Autonome und Alternative um die politische Vorherrschaft im Kiez. Heute sind die Konflikte von damals überholt. Die Gegner von einst sind die Verlierer von heute. „Die Szene“, lobt Rainer Sauter im nachhinein, „hat viel im Bezirk zusammengehalten.“ Zwar habe es, entgegen dem Mythos, kein Miteinander, wohl aber ein tolerantes Nebeneinander gegeben. Heute freilich gebe es nur noch ein Gegeneinander. Kreuzberg zerfällt – in Einzelkämpfer. Ein Autonomer lobt zurück: „Früher haben wir den Reformisten vorgeworfen, daß sie die Konflikte kanalisieren, anstatt sie zu verschärfen. Heute wären wir froh, wenn die meisten der Konflikte hier noch zu entschärfen wären.“

„Die Zukunft Kreuzbergs wird ganz entscheidend davon abhängen, ob es der Kommunalpolitik gelingt, einen breiten Konsens zur politischen Entwicklung des Bezirks zustande zu bringen“, sagte SPD-Bürgermeister Peter Strieder bei seinem Amtsantritt 1992. Heute gehe es Strieder nicht mehr um Kreuzberg, sondern um seine Karriere, meint Rainer Sauter. Im Rathaus an der Yorckstraße, davon ist der gelernte Sozialarbeiter und Hochschullehrer Sauter überzeugt, spiele eine demokratische Beteiligung der Kreuzberger keine Rolle mehr. Auch nicht bei den Grünen: „Ich bin erstaunt darüber“, sagt Sauter, „mit welcher Ich-Bezogenheit auch die Grünen Politik machen.“ Die Politik der Verwaltung habe mit der Realität in Kreuzberg nichts mehr zu tun.

Alternativen hat es gegeben: Zum Beispiel die Gemeinwesenarbeit des Vereins SO 36: interkulturelle Arbeit mit Jugendlichen, Mieterberatung, Hilfe zur Selbsthilfe bei den Gewerbetreibenden, Aktivitäten gegen die zunehmende Blechlawine. Doch der dezentralen Arbeit vor Ort wurde der Geldhahn abgedreht. „Alle wollen nur Macht anhäufen, statt Macht abzugeben, die Kreuzberger an den Entscheidungen teilhaben zu lassen“, schimpft Rainer Sauter. „Was zur Zeit passiert, ist, daß die Politiker sagen, in Kreuzberg wohnen die falschen Leute, anstatt zu fragen, ob sie selbst nicht die falsche Politik machen.“ Und manche meinten gar, die Investoren wären die einzige Rettung.

Sechs Jahre nachdem mit dem Fall der Mauer der neue Wind durch Kreuzberg pfiff, hat die Gegenwart die Zukunftsvisionen von damals eingeholt. In Kreuzberg hat sich, obwohl vieles von außen nicht sichtbar ist, mehr verändert als in manchem Ostbezirk. Werner Orlowsky spricht vor allem von Verlust: an sozialen Konzepten, an behutsamem Umgang mit den Betroffenen, an Demokratie. Mittlerweile, meint der 65jährige, würden die Probleme anders gelöst. „Man erwartet keine Opposition mehr, also schafft man die Bürgerbeteiligung ab und ruft die Polizei.“

Und die macht keinen Unterschied mehr zwischen Autonomen und Alternativen: Bei der letzten größeren Protestaktion anläßlich der Eröffnung der Oberbaumbrücke bekam auch Rainer Sauter die Schlagstöcke der Ordnungshüter zu spüren.