Geht's nicht etwas leiser?

■ Der Bremer Pianist Mark Scheibe hält das Fähnlein der Leidenschaft hoch/ Zu Gast im Jungen Theater

Über Groucho Marx kursiert jene schöne Anekdote, in der Harpo erläutert, was Groucho unter regelmäßigen Klavierübungen verstand: „Einmal am Tag die Hände unter warmes Wasser halten.“ Über Mark Scheibe, wenn er demnächst reich und berühmt ist, wird dann kolportiert, was er unter „mein Klavierunterricht“ versteht. Nämlich: Die Eltern schickten den 14jährigen zu der, wie sie meinten, „besten Klavierpädagogin Bremens“ bzw., wie Mark Scheibe meinte, zu einer vetrockneten Zwiebel ohne Passion. „Die wollte mir gleich diese Tonleitern beibringen und ich wollte diesen Boogie-Woogie spielen“ – das langte. So umfaßt Scheibes Klavierunterricht, rechnet man alles zusammen, bis heute genau eine einzige Stunde.

Trotzdem – oder gerade deswegen – gibt es kaum ein musikalisches Feld, das Scheibe mit seinen 26 Jahren nicht leidenschaftlich beackert hätte. Ob Boogie-Woogie oder Jazz, ob Barmusik, Bachkantaten oder Ballettbegleitung: Was zählt, ist Leidenschaft und Leidenschaft allein. Davon hat Scheibe im Übermaß. Und mit glühendem Herzen stürzt er sich in immer neue Abenteuer, zwischen Bremen und dem Rest der weiten Welt.

Mark Scheibe, der Entertainer. Die wilde Mähne ordentlich gekämmt, das beste Hemd am Leib, die schönsten Broadwaymelodien im Hinterkopf. Im Marriott-Hotel. Am großen Flügel. Abend für Abend. „Stilvolle Atmosphäre, kultiviertes Publikum“ – so hat er sich das vorgestellt. Aber dann, Abend für Abend, nur die reichen Säcke im Sakko, „im Grunde auch nur Prolls, die Frauen ins Hotelbett abschleppen wollten“. Und dazu immer wieder „Strangers In The Night“ ordern, oder, wahlweise, „das Stück aus ,Casablanca'“, dessen Name keiner kennt. Ob in Bremen, ob im Berliner „Kempinski“ oder im Grand Hotel auf Rügen. „Eine bittere Zeit“, sagt Scheibe. Denn für die Musik interessierte sich hier niemand. Nicht die Gäste, schon gar nicht das Hotelmanagement: „Es ist einfach deprimierend, wenn man immer gesagt bekommt: ,Geht's nicht etwas leiser?“

Den Gipfel dezenter Berieselungstechnik findet er schließlich im Bremer Spielcasino vor. Beim Probespielen kommt ihm der hauseigene Flügel „irgendwie komisch, irgendwie dumpf“ vor – Grund: Die um Diskretion bemühte Direktion hatte eine Schaumstoffmatratze in das Instrument gebettet, auf daß der Entertainer möglichst kuschelweiche und gedämpfte Töne spielen möge. Das langt.

Mark Scheibe, der Theaterpianist. Jeden Morgen, anderthalb Stunden, im „Concordia“. Aufwärmtraining für die Tänzerinnen und Tänzer aus der Truppe von Hans Kresnik, dem Tanztheaterwüterich. Bei der morgendlichen Repetition ist freilich strengste Disziplin angesagt. Sagt die Trainingsleiterin. Aber Mark hat den Blues, gelegentlich auch noch den Boogie-Woogie. Tschaikowsky, gut, das muß wohl sein. Dann aber legt Scheibe los: „Ich hab' da auch einfach frei improvisiert“, und wieso denn nicht, „den Tänzern hat's Spaß gemacht“, wenn sie z.B. das Bein langsam runternehmen mußten und Scheibe seine Melodielinien hochgetrieben hat.

Als Kresnik nach Berlin wechselt, zieht Scheibe mit, als Repetitor an der Volksbühne. Aber die neue Hauptstadt hat keinen Platz für Scheibes melancholisches Temperament. Unter Herzschlagtempo liegt seine Lieblingsfrequenz, Berlin liebt es anders: „Es kocht, es ist rasend schnell“ – das langt.

Mark Scheibe, der Experimentalkünstler. In seiner Dichterkammer in Berlin. Mit zwei Cassettenrecordern, einem Ensonic-Sequenzer und einem Handbuch der Schachgeschichte. „Wenn man jetzt das Schachbrett nimmt und die 64 Felder bestimmten Tasten zuordnet“ und den Figuren bestimmte Klänge, „dann spielen die Bauern Percussion, die Türme Saxofon und der König Cello, als herausragender Solist“. Und dann hören wir, wie es klingt, wenn ein Sinfonieorchester die legendäre Partie Fischer-Kasparov spielen würde, und zwar getreulich nach der internationalen Schachnotation. Praktische Chaostheorie, könnte man sagen; gelebte Leidenschaft, würde Mark Scheibe dagegenhalten. Man lausche bloß mal „diesen verrückten Zweitonschritten“, wenn der Springer zum Angriff bläst.

The return of Mark Scheibe. An der Sielwallkreuzung, neulich nachts. Mark Scheibe ist aus Berlin zurück; eine unerfüllte Liebe grummelt noch im Bauch herum. Es naht Nomena Struß vom Jungen Theater. Eine Revue ist geplant. Ein Pianist für alle Fälle wird gebraucht; einer, der Jazz kann und Blues und Boogie-Woogie, der sich mit Theater auskennt und singen und schauspielern kann und so weiter ... ob er nicht wen wüßte?

Thomas Wolff

Mark Scheibe ist noch bis Mitte September in der Revue „Das neue Kleid kriegst trotzdem Du“ zu sehen; am 15., 22. und 23. September mit „Musik ist Liebe“, einem Musik-auf-Zuruf-Programm, in der Nachtschiene des Jungen Theaters (Friesenstr. 16-19)