Jedes Jahr feiern Londons Schwarze den „Notting Hill Carnival“. Dreißig Jahre nach seinem Entstehen ist aus dem karibischen Tanzumzug das größte Straßenfest Europas geworden. Galt der Karneval bis 1989 als fest gebuchter Straßenschlachttermin, geht Notting Hill heute neue Wege – mit vielen netten Polizisten und Geld von Coca-Cola. Aus London Dominic Johnson

Alle anders, alle gleich

Wenn die buntgekleideten Mädchen von „Beeraahar“ zum Calypso-Beat durch die Straßen hüpfen, kann sich auch die Polizei nicht im Zaum halten. Eine grauhaarige Beamtin schwingt vor dem Erste- Hilfe-Wagen auf der Lancaster Road sanft die Hüften, und bald nimmt ein adretter jüngerer Polizist unter dem Grinsen der Kollegen den Tanz auf. Das Publikum schaut nicht zu, denn die richtigen Tänzerinnen sind viel spektakulärer. Der Calypso dröhnt, die Menge wippt auf und ab, ohrenbetäubend schrillen Trillerpfeifen durch die warme Mittagsluft, und wer sich nahe genug an die Paradestrecke herankämpft, kann die schwarzen Schulkinder in ihren leuchtend grünen, gelben und purpurnen Kostümen bewundern, wie sie zum Beat der vorausfahrenden Lautsprecheranlage farbenprächtig durch die Gegend wirbeln.

Es ist Karneval im Westen von London. Wie jedes Jahr am letzten Augustwochenende feiert hier im Stadtteil Notting Hill die karibische Volksseele sich selbst. Zwei Tage lang bewundern insgesamt anderthalb Millionen Besucher aller Hautfarben und Sprachen die beiden gigantischen Umzüge, die vom Mittag bis zur Dämmerung ein ganzes Stadtviertel in einen infernalischen Kessel greller Farben, verrückter Kostüme und entfesselter Tanzakrobatik verwandeln. „Beeraahar? Das bedeutet Sonne, Sonnenmusik“, schafft es ein älterer Aufseher gerade noch zu erklären, während er von der Pinkelpause zum Gruppenlastwagen zurückhetzt. „Das ist karibische Musik, aus Trinidad. Aber die Kinder sind alle von hier. Kommen Sie unbedingt morgen wieder! Da ist viel mehr los.“ Und weg ist er.

Im Zeitlupentempo wälzt sich der Konvoi aus Dutzenden, am Schluß des zweiten Tages sogar 150 verschiedenen Ensembles an den Massen vorbei. Er soll bis zur Abenddämmerung die kreisrunde Paradestrecke hinter sich gebracht haben, aber je weiter der Tag voranschreitet, desto öfter bleibt die Prozession im Menschenpulk stecken, desto nachdrücklicher verwandelt sich die Straße in eine Müllkippe aus halbleeren Plastiktellern, desto gnadenloser animieren die Schausteller ihr Publikum zu immer neuen Verrenkungen.

Nacheinander erscheinen bemalte griechische Krieger, hochmütig dreinblickende ägyptische Priesterinnen, rotierende bunte Pfauengestalten, gigantische fluoreszierende Blumen, gestreifte Zebras und Tiger mit schüchternen Kleinkindergesichtern. Jede Gruppe folgt ihrem offenen Lastwagen, auf dem meterhohe Lautsprecherhügel kilometerweit Bässe in den Himmel senden.

Die Frauen von „Kuumba – Society of Masks“ schwingen afrikanische Gesichtsmasken und Kokosnüsse aus Plastik. Hinter dem Soundsystem von „Spirit of Carnival“ paradieren Jungs mit meeresblauen Zylindern auf dem Kopf und furchterregend großen Pappmaché-Suppenlöffeln in der Hand. Die „Peoples' War Carnival Band“ untermalt ihre Musik mit Maschinengewehrknattern vom Tonband und führt unter dem Motto „Haiti: Let Freedom Rain“ einen politischen Kopfschmuck ein: Rechts, in Rot, stehen die bösen Worte „Coup“, „FRAPH“, „Macoutes“, „Attaché“, links, in Blau, strahlt das Gute: „Aristide“, „Élections“, „Freedom“, „Liberté“.

Die Tänzer sind nicht nur Schwarze. Es gibt in der Prozession weiße Schulkinder und grauhaarige weiße Damen, im Publikum sowieso. Der Karneval kennt weder Alters- noch Rassenschranken. Zu sehen sind Weiße mit Rastalocken und schwarze Skinheads. Weiße Anwohner hängen in Trauben über Fensterbänke und Balkongeländer, schwarze verwandeln ihre Hauseingänge in improvisierte Imbisse mit Dosengetränken aus eigener Tiefkühlbox und scharfer Grillkost nach karibischer Hausfrauenart. In den Straßen innerhalb des Paradekreises, wo aus eigens aufgebauten Boxen mit Ansager der neueste schwarze Sound zu hören ist, tanzen Tausende vor sich hin – allein, zu viert, auf Rollschuhen, mit bunten Hüten. Es ist das größte Straßenfest Europas, und Londons Schwarze sind darauf sehr stolz. Nicht nur sie: „Der Notting Hill Carnival“, läßt Großbritanniens konservativer Premierminister John Major in einer Grußadresse wissen, „hat einen mächtigen Beitrag zum Wachstum eines starken multikulturellen Erbes geleistet, auf das wir alle stolz sein können.“ Keinem deutschen Bundeskanzler käme ein solcher Satz über die Lippen.

Eigentlich sind die Amerikaner schuld. Die massenhafte Migration karibischer Schwarzer nach England in den 50er Jahren hätte es vielleicht gar nicht gegeben, hätten die geographisch viel näher liegenden USA nicht 1952 die jährliche Einwanderungsquote für die Karibik von 65.000 auf ganze 800 gesenkt. Das Ergebnis: Waren zuvor aus den wirtschaftlich ausgelaugten „West Indies“ nur wenige ausgesuchte Kriegsveteranen im Mutterland des Empire gelandet, setzte jetzt eine Massenbewegung über den Atlantik ein, die bis 1958 158.000 schwarze Subjekte Ihrer Majestät mit britischen Pässen aus Kleinkolonien wie Jamaika, Guyana oder Trinidad nach Großbritannien verschiffte. Sie landeten in Häfen wie Liverpool oder Plymouth, und wenn sie weiterfuhren, war die Reise spätestens in Londons westlichen Kopfbahnhöfen zu Ende. So geriet Notting Hill, unweit vom Bahnhof Paddington gelegen, zum ersten gemischtrassigen Wohngebiet Londons.

Zwar prangen auf den Hängen des „Notting Hill“ strahlend weiße Villen hinter Bäumen und großen Gärten – der Labour-Europaabgeordnete für London-Mitte hat hier sein Büro, standesgemäß in einer Kellerwohnung. Aber unterhalb des Hügels, Richtung Kanal und Eisenbahnlinie, werden die Straßen und die Häuser enger. In der All Saints Road stehen die für England untypischen drei- bis vierstöckigen Mietskasernen am höchsten und am dichtesten, und so entstand in den 50er Jahren hier die erste schwarze Straße Londons. Hier, sagen Bewohner, fing alles an, als vor dreißig Jahren in einer heißen Sommernacht Musik und Tanz nach draußen verlegt wurden und bis in den Morgen währten.

Und auch hier sind die Amerikaner schuld, denn es hätte diesen „Notting Hill Carnival“ womöglich nie gegeben, hätten die USA im Jahre 1958 nicht die karibische Einwanderin Claudia Jones wegen „kommunistischer Aktivitäten“ ausgewiesen, und sie wäre nicht als Bürgerin des Empire in Großbritannien gelandet. Innerhalb kürzester Zeit organisierte die Politaktivistin Londons ersten karibischen Karnevalstanz, im Rathaus von St. Pancras in der nördlichen Londoner Innenstadt. Das war die Geburtsstunde der Idee, daß Schwarze in England nicht nur geduldig arbeiten, sondern auch selbstbewußt feiern könnten.

1960 mischte sich dann zum ersten Mal eine vierköpfige Steel Band aus Trinidad in ein vorösterliches christliches Faschingsfest in Notting Hill. Es gefiel, und die Musiker kamen öfter, bis es schließlich 1965 zu jenem heißen, lauten Augustwochenende kam – der Geburtsstunde des Karneval, der dieses Jahr sein 30. Jubiläum gefeiert hat.

Zu Anfang war der „Notting Hill Carnival“ eher eine karibische Nostalgieveranstaltung, wo Einwanderer aus Trinidad ihre Kultur zelebrierten. In den 70er Jahren expandierte das Fest in immer mehr Straßen und zog immer mehr Enthusiasten wie auch Kritiker an. 1976 kamen auf die 250.000 Karnevalsbesucher 10.000 Polizisten, und es folgten Unruhen. Für über zehn Jahre danach war der Karneval ein fester Termin zwischen Schwarzen und der Polizei. Noch heute erzählen Besucher gerne von dieser Zeit: Als Polizisten knüppelschwingend durch die tanzende Menge marschierten, als im Dunkel unter der Stadtautobahnbrücke geprügelt wurde, als weiße Besucher als Feinde galten und systematisch ausgeraubt wurden und als die geifernde rechte Presse das Verbot des Karnevals forderte.

Aber der Karneval wuchs einfach immer weiter, und aus der feucht-fröhlichen Mischung von Heimat- und Chaostag wurde eine Touristenattraktion. Die Behörden konzentrierten sich auf Eindämmung: mehr Polizei, Straßensperren, Verbot von lauter Musik nach Sonnenuntergang. Die Organisatoren, mittlerweile das ganze Jahr beschäftigt, konzentrierten sich darauf, mehr Teilnehmer und Geldgeber zu finden. Langsam bemerkten beide Seiten, daß sie eigentlich ein gemeinsames Interesse hatten. Heute wird alles in beiderseitigem Einvernehmen geregelt: die Route der Karnevalsprozession, der Standpunkt von Musikbühnen und Verkaufsständen, die Straßenabsperrungen.

„Der letzte schlimme Karneval war 1989“, erinnert sich Lee Jasper vom Mangrove Café in der All Saints Road. „Damals baute die Polizei überall Barrikaden, lief in Zwölferreihen herum und verhaftete die Leute links und rechts. Seitdem hat sich alles völlig verändert. Es hat viel Druck auf die Polizei gegeben, sich an die Regeln zu halten. Wichtig sind eine hochqualifizierte Einsatzleitung und Druck von der Gemeinschaft. Vor dem Karneval treffen wir uns mit der Polizeiführung, und wenn es Probleme mit bestimmten Polizisten gibt, werden die nicht eingesetzt.“

So stehen heutzutage zwar alle zehn Meter Polizisten herum, aber sie sind so gut wie unsichtbar. 7.000 Beamte waren dieses Jahr im Einsatz – 500 mehr als l994 – und der „Notting Hill Carnival“ gilt mittlerweile als das bestbewachte Fest des ganzen Landes. Ein Problem ist das schon lange nicht mehr.

Das Nebeneinander von lückenloser Überwachung und grenzenloser karibischer Überschwenglichkeit produziert zuweilen surreale Szenen. Ein zotteliger Rasta mit Bierdose fällt lautstark und freudestrahlend einem jungen Beamten um den Hals, und der ist begeistert. Ein ratloser Punk fragt den Diensthabenden an der Absperrung höflich nach dem Weg, und beide vertiefen sich in einen Stadtplan. Die heftigsten Worte fallen nicht in den brenzligen Situationen drohender Masseneuphorie, sondern am leeren frühen Morgen, wenn gelangweilte Polizisten bei übermüdeten Würstchenverkäufern die Einhaltung des 7-Fuß-Mindestabstands vom Tresen zum Bordstein kontrollieren.

Als am Schluß des Karnevals doch ein wenig Gewalt ausbricht, hat das mit der Polizei nichts zu tun. Am späten Montagabend kommt es zu einer Schießerei, ein Mann muß mit einer Schußwunde im Arm ins Krankenhaus. Auch Messerstechereien werden gemeldet. Aber die gibt es in Notting Hill auch ohne Karneval. Die Gewalt ist sogar minimal für ein Ereignis, in dem sich über eine Million Menschen in ein Wohngebiet von drei Quadratkilometern drängen. Das Thema des „Notting Hill Carnival“, wenn es denn eines gibt, ist nicht die Haltung der Schwarzen zum Staat, sondern die Haltung der Schwarzen zu sich selbst und zur weißen Gesellschaft.

Auch hier sind Neuerungen zu verzeichnen, von denen die auffälligste dieses Jahr zum ersten Mal greift, und wieder sind die Amerikaner schuld. Der 1995er Karneval heißt nämlich gar nicht, wie sonst, „The Notting Hill Carnival“, sondern „The Lilt Notting Hill Carnival“; das Coca-Cola-Imperium, das unter dem Namen „Lilt“ – „The Totally Tropical Taste“ – eine Ananas-Grapefruit-Mixtur herstellt, hat den Namen gekauft. Als Titelsponsor verkauft es sein Gesöff nun an jeder Straßenecke, und „Lilt“ steht auf jedem Wegweiser. Das wird kein Einzelfall bleiben: Laut Coca-Cola ist der Fördervertrag für drei Jahre abgeschlossen.

Vor zehn Jahren wäre diese beispiellose Kommerzialisierung völlig undenkbar gewesen. Und es gibt offenbar mächtige Bauchschmerzen: Die Einzelheiten des Vertrags sind strikt geheim, der Name „Coca-Cola“ taucht in der Öffentlichkeit nirgends auf, der Markenname „Lilt“ wird als eigene Firma präsentiert – aus Werbegründen, wie Coca-Cola-Sprecherin Wendy Irvine erklärt: „Lilt ist der tropische Geschmack“, und daher seien Lilt und der Karneval „die perfekte Kombination“, erklärt sie.

Sowohl Coca-Cola als auch die Veranstalter betonen den sozialen Aspekt der Angelegenheit: Die Profite von den Lilt-Getränkebuden sollen sämtlich wohltätigen Zwecken zugute kommen. Designierte Empfänger sind die „Kensington Temple Church“, eine hauptsächlich schwarze Gospel- Gemeinde, und der Wohltätigskeitsverein „Sickle Cell Anaemia Relief“ (SCAR), der Opfern einer seltenen, fast ausschließlich Schwarze befallenden Blutkrankheit hilft. Die Temple Church will mit ihrem Geld ein Heim für Kriegskinder aus Sri Lanka fördern; SCAR möchte mit den Coca- Cola-Geldern schwer erkrankten schwarzen Schulkindern Unterricht zu Hause bieten.

Durchbruch oder Ausverkauf? Der Karneval war nie nur Fest, sondern auch eine wohltätige Veranstaltung, Teil der Tradition schwarzer Selbsthilfe, die seit den 50er Jahren Bedingung für das Überleben der kleinen Einwanderergemeinschaften in einer feindlichen Umgebung ist. Und Tatsache ist, daß die Londoner Bezirksverwaltungen mit hoher schwarzer Bevölkerung, die traditionell die Karnevalsumzüge ihrer Bewohner finanzieren, immer weniger Geld für solche Zwecke zur Verfügung haben und die Karnevalisten daher schon seit Jahren gezwungen sind, für die Bezahlung von Soundsystems, Aufführungsrechten, Tänzern und Kostümen andere Geber zu suchen. So haben längst unzählige Firmen das Recht erworben, ihr Logo auf die Lastwagen der Karnevalsprozession zu setzen – und manchmal nicht nur dort. Daß Tänzer die Embleme von „Appleton Jamaica Rum“ schwingen, mag passend erscheinen; die grünen Fahnen der staatlichen Eisenbahngesellschaft „Railtrack“ als Zutat für Orchideenfiguren wirken hingegen ausgesprochen albern.

Kritiker haben in Aufsätzen von der „Domestizierung“ des Karnevals gesprochen, der jetzt von der Unternehmerwelt erobert werde und seine Identität aufgebe. „Dies ist eine kulturelle Institution dieses Landes und verdient öffentliche Finanzierung“, schimpft auch Lee Jasper. Sein „Mangrove Café“ in der All Saints Road entstand 1970 in einem Klima polizeilicher Unterdrückung und wurde schnell zum Zentrum schwarzer Basisorganisationen, die sich mit behördlichen Schikanen auseinandersetzen mußten.

Heute ist das „Mangrove“ kein reines Café mehr, sondern ein Gemeinschaftszentrum, in dessen Eingang ein Schwarzer in zusammengestückelter grüner Armeeuniform Besucher empfängt. Nebenan ist das Büro der Notting- Hill-Wohnungsbaugenossenschaft, die Ende der 50er Jahre als erste solche Organisation unter schwarzer Beteiligung gegründet wurde. Sie ist längst selber ein mittelgroßes Unternehmen geworden, mit unzähligen Büros und Unterabteilungen. Aber von solchen ortsgebundenen Erfolgen ist es dennoch ein weiter Weg zu den Lilt-Plakaten an den Laternenpfählen oder den Zeitungsanzeigen für „jamaikanische Socken“ in Rot-Gelb-Grün, „Bob-Marley- Armbändern“ und Rastamützen zum Selberstricken.

Die All Saints Road mit ihren blätternden Fassaden und ihren grauhaarigen Nachbarn, die sich alle kennen, macht da ein wenig den Eindruck, von der Zeit überholt zu sein, wie eine schwarze Version der goldenen 50er Jahre, aus denen ihr Charakter ja stammt. „Dies ist das Herz des Karnevals“, erklärt Lee Jasper seine Straße. „In anderen Straßen gibt es viele Verkäufer von außerhalb, aber die Leute, die Sie hier sehen, leben hier. Die All Saints Road ist eine Art Dorfgemeinschaft. Was hier passiert, bestimmt die Atmosphäre des Karnevals.“

Und was passiert hier? Direkt vor der Tür des „Mangrove Café“ hat ein Verein namens „Concerned West Indian Parents“ (CWP) – „Besorgte karibische Eltern“ – seinen Stand aufgebaut. Er sammelt Geld, um eigene schwarze Institutionen zu finanzieren – Jugendprojekte, Sozialstationen, Kreditanstalten, Kleinunternehmen. Mit einem Pfund pro Woche kann man in das „Aufbauprogramm“ einsteigen. „Unser Ziel ist der Aufbau einer besseren Umwelt für heutige und zukünftige Generationen“, sagt großspurig der Vertreter und erklärt: „Wir begannen vor drei Jahren als Gruppe karibischer Eltern, die sich Sorgen darum machten, daß sie immer Geld für die Ausbildung ihrer Kinder ausgaben.“ Das klingt lobenswert. Nur ist die Schul- und Universitätsausbildung in England kostenlos, und der Mitarbeiter kann seinen US-amerikanischen Akzent immer weniger verbergen. In der Auslage hinter ihm finden sich reihenweise Videos des kontroversen US-Schwarzenführers Louis Farrakhan. Farrakhans „Nation of Islam“, die in den USA durch antisemitische Ausfälle und Propaganda über eine geheime jüdische Weltregierung, aber auch durch kompromißlosen Kampf gegen die Drogenmafia in schwarzen Ghettovierteln bekannt geworden ist, hat in Großbritannien noch wenig Fuß gefaßt. Aber die Verkäufer der Farrakhan-Zeitung The Final Call (Letzter Aufruf) sind allgegenwärtig. Sie tragen tadellose dunkle Anzüge mit weißem Hemd und einer roten Fliege, die mit ihrem weiß aufgedruckten Halbmond und Stern aussieht wie die Nationalflagge der Türkei. Das, weiß ein Verkäufer, bedeutet „Einheit“.

Eines der größten und spektakulärsten Ensembles der Karnevalsprozession tanzt nicht nur zum Calypso, sondern zwischendrin auch zu US-amerikanischem Rap. „Masquerade 2000“ ist ein Karneval im Karneval; nicht bloß ein Soundsystem mit Tänzern, sondern eine eigene Wagenkolonne komplett mit der Live-Band „The First Serenade“ aus Dominica und einem Leittänzer, dessen Kostüm aus einer Blume mit großen Hummerhänden an den Blütenspitzen besteht; auf dem Rücken trägt er ein Zwei-Meter-Plastikskelett, dessen Gebeine im Tanzrhythmus durch die Luft wedeln.

Englands schwarze Gemeinschaft ist auf der Suche. „Black Power“ oder moralischer Separatismus haben eigentlich mit den karibischen Ursprüngen genauso wenig zu tun wie das Geld der Großkonzerne. Der Karneval hat sich bisher dadurch vermarktet, daß er sich eben nicht vom Establishment als multikulturelles Aushängeschild einvernehmen läßt. Eine organisierte Hervorkehrung von Multikulturalität als Faschingsereignis hätte darüber hinaus in einer Stadt, wo Schwarz und Weiß ohnehin zusammenleben, etwas Scheinheiliges. Aber genau dies scheint jetzt zu geschehen.

Das wirkliche Problem der Multikulturalität liegt derweil ganz woanders. Schwarz und Weiß reden über die gleichen Dinge – aber verschieden. „Brauchst du eine Waffe?“ ruft mit leuchtenden Augen ein muskulöser Schwarzer in einer Gruppe, die gerade vor dem einzigen Regenguß während des Karnevals in einem Hauseingang Schutz gesucht hat. Der Angesprochene, dessen Freundin sich gerade den großkotzigen Avancen des neben ihr stehenden Hünen grinsend erwehrt, weist das Angebot mit einem hohen Gackern zurück. Alle lachen, als schließlich doch ein dünner Bambusstab die Runde macht. „Hey, wir haben zwei Tage, um uns zu amüsieren“, trifft der abgewiesene Kavalier die Stimmung. „Es gibt doch was zu feiern.“ Und das Gespräch verlagert sich auf das andere große Ereignis dieses Wochenendes: das letzte große Cricket Match der Sommersaison zwischen England und den West Indies, bei dem gerade mal wieder England verliert. Siegesrufe werden laut.

In den Kneipen von Kensington einige Straßen weiter, außerhalb der Reichweite des Karnevals, ist Cricket auch das Thema. „Wir spielen wie Schulmädchen“, stöhnt ein untersetzter Stammgast und wendet entsetzt den Blick vom Fernseher ab. „Wir verdienen's gar nicht besser.“ Allgemeine Zustimmung folgt. Am Tresen eines anderen Lokals gibt ein alter bärtiger Jude, der offenbar schon den ganzen Tag das Spiel verfolgt, nach reiflicher Überlegung vor dem ratsuchenden Publikum sein Expertenurteil ab: „Nix zu machen“, ruft er, und alle nicken betroffen. Das alte England ist müde.

Richtiges Gemeinschaftsgefühl entsteht in seltenen Momenten und ist nie von Dauer. Hingebungsvoll folgt in der Abenddämmerung, gegen Ende der Karnevalsprozession, eine dichtgedrängte Menge den weichen Klängen aus einem der letzten Lautsprecherwagen; dasselbe Lied wird immer weiter gesponnen, Hunderte von Menschen wiegen sich in einem sanften Rhythmus sachte tanzend die Straße entlang, und nach einer Weile sieht das Ganze aus wie eine jener Township-Aufmärsche aus dem alten Südafrika, wo demonstrierende Massen hinter Särgen und Fahnen durch den afrikanischen Sand stampften und sangen. Und tatsächlich wird dieser Tanzzug angeführt von einem politischen Transparent: „All Different, All Equal“, verkündet die staatliche Gleichstellungskommission „Commission for Racial Equality“ in großen Lettern schwarz auf weiß: Alle anders, alle gleich.

Die meisten haben wohl gar nicht gemerkt, daß sie dieser Parole nachhüpfen, aber die Bannerträger sind glücklich: Hinter ihnen ist der multikulturelle Traum Wirklichkeit. Aber es sind Weiße im Alternativlook, die wie in Trance tanzen. Das Gemeinschaftserlebnis existiert hauptsächlich in ihren Köpfen. Die schwarzen Kleinkinder auf dem Bürgersteig haben derweil Wichtigeres zu tun. Unter den Argusaugen ihrer um die Unterwäsche besorgten Mütter pinkeln sie reihenweise die Hauswände voll. Und die Parade zieht weiter.