Nachschlag

■ Heiner Müller und Jewgenij Jewtuschenko im BE

Freundlich und aneinander vorbei Foto: Karl Mittenzwei

Heiner Müller sieht Woody Allen immer ähnlicher. Jedenfalls, wenn man ihn aus der letzten Reihe im Parkett des Berliner Ensembles beobachtet, wie er da in seinem Plüschsessel auf der Bühne versinkt. Nein, er werde ganz bestimmt keine eigenen Texte vorlesen, er sei ja eigentlich nur „der Stuntman von Harald Juhnke“. Diesen halte er übrigens für einen „großen Künstler“, der nur von der Boulevardpresse immer wieder heruntergeschrieben werde. Juhnke sei nun leider sehr krank und habe deshalb absagen müssen. Dann heben die Herren ihre mit Wodka gefüllten Gläser und trinken auf die Gesundheit von Harald Juhnke. Jewgenij Jewtuschenko, der Star des Abends, feuert seines rückwärts in den Bühnenraum.

Jetzt ist aber endlich Jewtuschenko dran. Er wippt auf den Zehenspitzen, während sein Übersetzer eines seiner Gedichte auf deutsch vorträgt. Dann springt er nach vorne, ruft, brüllt, säuselt, flüstert, grollt, zwitschert. Es geht in diesem Gedicht um sibirische Zwergbirken, die dem aus Sibirien stammenden Dichter ein Bild des Sowjetmenschen sind: krummer Wuchs unter widrigen Bedingungen. Jewtuschenko ist wohl der einzige Dichter seines Rangs, der sich nicht damit begnügt, Bilder hinzuschreiben – bei seinen gestischen Lesungen muß er sie einfach spielen: Wo Ich war, soll Zwergbirke werden. Es folgt ein deutsch-russisches Kamingespräch zwischen den Herren Müller und Jewtuschenko, in dem die beiden, die sich alle naslang küssen und umarmen, aufs freundlichste aneinander vorbei reden. Melancholiker Müller will immer wissen, warum eigentlich alles schiefläuft. Womit hat es bloß angefangen? Mit Gorbatschows Fehlern? Mit Stalins Wahnsinn? Mit der französischen Revolution? Mit den Bauernkriegen? Jewtuschenko indes, manisch und charmant, hat genug damit zu tun, sich über die Reisefreiheit und die erstmalige Abwesenheit von Zensur in der gesamten russischen Geschichte zu freuen. Solche kleinen Freuden sind bekanntlich Müllers Sache nicht. Aber er hält sich tapfer an seinem Scotch schadlos und zündet sich später auch eine seiner weltberühmten Havannas an, durch deren Dunst betrachtet manches milder scheint. So sind sie am Ende ungeachtet ungeklärter Menschheitsfragen ordentlich angeschickert und – nehmt alles in nur allem – recht zufrieden. Jewtuschenko sagt zuletzt, er glaube fest an die Zukunft „unserer beiden großen Völker“. Wir heute abend auch. Jörg Lau