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: Otto-Suhr-Camp

Kunst ist, was wir tun, Kultur, was uns angetan wird. Gemäß dieser Definition besteht die Frankfurter Suhrkamp-Kultur aus der Regenbogen-Edition, mit allem, was dazugehört an Honoraren, Empfängen, Buchmessen und Intercity-Zügen. Demgegenüber hat sich hier in den letzten Jahren eine Camp-Kunst ausgebreitet, deren Theoretiker und Kritiker in und um die Otto-Suhr- Siedlung leben.

Im Gegensatz zu dem von Susan Sontag gebündelten Schwulen-Camp, dessen Rezeption in Berlin verpaßt wurde, geht es dem Otto-Suhr-Camp nicht um die vertikale Entfernung der Ironie, sondern um einen Hetero- Humor, der sich fallen läßt, bis er auf das Schwarze unter dem Fingernagel trifft. Detlev Kuhlbrodt zählt dazu die Berlin-Vorträge von Gertrud Höhler aus Paderborn ebenso wie die Super-8- Filme von Dagi Brunnert. In diesem Zusammenhang wären auch noch Funny van Dannen, überhaupt End-art, Arno Funke als „Dagobert“ und Peter Funken als „Kulturmanager“ zu nennen. Im Neuköllner Heimatmuseum findet derzeit eine Selbst-Ausstellung statt, für die Thomas Kapielsky eine komplizierte Vier-Teile-/ Temperamente-Analyse des Bezirks, bestehend aus Britz, Buckow, Rudow und „Neukölln“, vorgelegt hat. Am Schluß seiner Dekonstruktion äußert der Autor die Vermutung, daß die neuköllnisch-ausdifferenzierte Lebenskunst etwas mit „Camp“ zu tun hat. Weil es dort eine Otto- Suhr-Schule gibt?

Unausgesprochen ging es um denselben „Approach“ neulich auch bei der Uraufführung des Dokumentarfilms der Story Dealer AG „Feuer im Kopf“, die im SO 36 stattfand. Früher hatte diese Gruppe Abenteuerreisen für Kinder organisiert, wobei sie Inszenierungen und Realien vermischte – von ihnen „unsichtbares Theater“ genannt. Etwa so: Der Bus mit Kindern fährt zu einem Urlaubsort, hat aber unterwegs eine Panne, die Gruppe geht nachts zu Fuß weiter, landet bei einem Bauern und erlebt dort weitere interessante bis erschreckende Geschichten. Die Story Dealer ernteten mit solch „engagierten Betreuungs-Konzepten“ dickes Bezirksämter-Lob, aber dann auch einen jähen Absturz – als man begann, ihnen Kindesmißbrauch vorzuwerfen. Gleich im Anschluß an den Film bezeichneten einige „Wildwasser“-bewegte Frauen die Story Dealer erneut als Kinderschänder, dann gingen sie aber, als auch die anwesenden Soziologen und HdK- Professoren sich zu Wort meldeten.

Diese kritisierten dann im übrigen das „Antiaufklärerische“ an dem ganzen Projekt. Dabei ging es jedoch nicht mehr um arme Berlin-Kinder, sondern um reiche Hamburger Werbeleute, denen die Story Dealer ein Kreativst-Wochenende verpaßt hatten, beginnend ebenfalls mit einer Bus- beziehungsweise Buchungspanne: Über eine Kneipe gelangte das Werbeteam sodann auf einen verfallenen Gutshof der RA.M.M.-Theaterleute, wo sich neben eingeweihten und ahnungslosen Künstlern auch eine Filmgruppe, die sich als arte- Team ausgab, ihrer annahm. Von den Hamburgern war einzig der Teamleiter und ein Geschäftsführer der für Reemtsma arbeitenden Promotion-Truppe über den unsichtbaren Theatercharakter ihres Brainstorming-Wochenendes informiert. Viele der professionellen Manipulateure, wie Dr. Seltsam die 50 Werbefuzzis nannte, fühlten sich hernach in Hamburg schwer hintergangen. Jeder sei für sich allein verantwortlich und hätte beizeiten gehen können, verteidigte sich die Firmenleitung. Eine fitneßstudiogefittete Texterin hatte sich nicht einmal gewundert, als sie bereits bei ihrer Ankunft auf dem vorpommerschen Gutshof ein Porträtbild von sich dort an der Wand entdeckte: die Vorsehung, eine wunderbare Fügung?

Insbesondere die weiblichen Promotionprofis brachten sich dann voll in die gefakte große Abschlußinszenierung mit Feuerwerk, Flammen, Entkleidung und Hochkran ein. Der Camp der Story-Dealer-Projekte kam auch schon bei ihrer Aktion auf einem Heidelberger Soziologiekongreß zum Thema „Konstruktion von Wirklichkeit“ heraus: Dort hatten sie das Gerücht gestreut, einige Referenten seien professionelle Schwindler – mit dem Effekt, daß selbst internationale Experten vom Fachpublikum ausgelacht wurden. Helmut Höge

wird fortgesetzt