Durstkünstler auf dem Dach

Dachbegrünungen werden nicht mehr gefördert, aber sie rentieren sich trotzdem. Denn begrünte Dächer halten länger – und sind ökologisch  ■ Von Ursula Dohme

„Machen Sie mal im Frühsommer einen Rundflug über Neukölln“, rät der Architekt Jens Drefahl, „Sie werden erstaunt sein, wie viele grüne Dächer es zu entdecken gibt.“ Darunter sind einige hundert Jahre alte Grasdächer. Sie wurden einst von schlesischen Zuwanderern gebaut und haben die Brandbomben des Zweiten Weltkrieges überstanden. „Zwischen Hermannstraße und Karl-Marx- Straße sind fast alle Dächer begrünt. Nach dem heißen Sommer ist jetzt natürlich alles braun und verdorrt“, sagt Drefahl, der auch als Gutachter und Sachverständiger für Dachbegrünungen arbeitet. Dennoch sind Trockenheit und Dürre für die von Drehfahl empfohlenen Biotop-Dächer mit ihren verschiedenen „Sedum-Arten“ kein Problem.

Diese Dickblattgewächse sind Hunger- und Durstkünstler: Die humose Erde lieben sie nur durch Kies und Schotter in ihrem Nährwert reduziert, Wasser- oder Düngergaben verabscheuen sie. Den natürlichen Kreisläufen können sich die Dickblattgewächse gut anpassen. Ihre Anspruchslosigkeit läßt die Bauunterhaltungskosten gen Null streben. Je dicker die Erdschicht der Dächer ist, desto mehr Gräser und Kräuter siedeln sich an, Moose und Dickblattgewächse ziehen sich zurück. Ihnen reicht eine Erdschicht von vier bis sechs Zentimeter. Perlgras, Adonisröschen und Königskerze brauchen die doppelte Schichtstärke. Verwilderungsfähige Blumenzwiebeln wie Schneeglöckchen und Krokus sind dann auch mit von der Partie. Wird das Gründach von Hochhäusern beschattet, halten Halbschattengewächse immer durch: Maiglöckchen beispielsweise, Walderdbeere, Duftveilchen oder Waldmeister.

Diese Biotop-Dächer sind sehr kostengünstig. Daneben gibt es zwei weitere Arten der Dachbegrünung: die extensive und die intensive. Extensiv begrünte Dächer können durch kleine, sogenannte „Bewuchsinseln“ Zwergwacholder und Wildrosen wie Essigrose und Bibernellrose Platz bieten. Selbst Zwergkiefernarten können hier angepflanzt werden, verschiedene Kriechkiefern etwa. Gelegentlich muß man allerdings düngen, mähen und sprengen.

Die intensive Dachbegrünung ist besser als Dachgarten bekannt: Begehbar für Erholungssuchende wachsen hier alle Pflanzen wie in einem ebenerdigen Garten. Das braucht die gleiche intensive Pflege wie ein gewöhnlicher Garten.

„Den Schlesiern waren Dachziegel zu teuer, deswegen haben sie aus Steinkohle, Papier und Erde Grasdächer gebaut“, erzählt Drefahl. „Doch auch heute ist die Wirtschaftlichkeit das beste Argument.“ Ein solches Dach hat viele ökologische Vorteile: Luftverbesserung durch Staubbindung und Sauerstoffproduktion, Ausgleich von Temperaturschwankungen, sehr gute und umweltfreundliche Wärme- und Lärmisolierung, Refugium für seltene heimische Trockenpflanzen, Rückhaltung und verzögerte Freigabe von Wassermassen nach Regenfällen. Die Liste der ökologischen Vorzüge ist noch viel länger, aber nicht für jeden Bauherren überzeugend. Denn die Einrichtungskosten sind höher als bei konventioneller Dachabdeckung. Nur wer langfristig rechnet, Ausbesserungen und fällige Erneuerung einkalkuliert, ist von Biotop-Dächern schnell zu überzeugen. „Die Lebensdauer konventioneller Dachabdeckung beträgt 10 bis 20 Jahre, dann ist die Totalsanierung fällig“, sagt Drefahl, „von Mietminderungsklagen wegen Nässe oder Baulärm ganz zu schweigen.“ Die Bitumendächer können die Temperaturschwankungen von über 100 Grad Celsius und die starke Sonneneinstrahlung auf Dauer nicht verkraften. „Aber eine Bitumenabdeckung, die von einem darüber liegenden grünen Dach geschützt wird, ist noch nach 15 Jahren so gut wie neu.“ Die GSW, Berlins größte Wohnungsbaugesellschaft, ließ sich schon vor Jahren überzeugen. Die eingesparten Instandhaltungskosten übersteigen die anfänglichen Mehrkosten der Grasbedachung bei weitem. Anfang der 80er Jahre erhielt der erste GSW-Bau ein Grasdach. „Das war ein Ladenzentrum in der Obstallee in Spandau“, erzählt Beatrice Kindler von der GSW. „Inzwischen gibt's kaum einen Neubau ohne Biotop-Dach. Die meisten befinden sich in Lichterfelde und Kreuzberg.“

Die Förderungsprogramme der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz mußten vor anderthalb Jahren gekürzt werden: Zugunsten der Hofbegrünung wurde die Dachbegrünung eingestellt. Bei der Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen wird nur in Einzelfällen – beispielsweise Dachaufstockung in der Innenstadt – auf Dachbegrünung gesetzt. „Politiker wollen sichtbare Erfolge, und Flachdächer kann man meist nicht sehen“, sagt Wolfgang Rudolf, Projektgruppe Agrar- und Stadtökologie der Humboldt-Universität. Er findet es „hervorragend“, daß die Förderung eingestellt worden ist: „Förderung begünstigt doch nur einen Innovationsstillstand.“ International hätten die Deutschen einen großen technischen und patentrechtlichen Vorsprung. Die skandinavischen Länder mit ihren traditionellen Grassodendächern, bei denen Holz und Birkenrinde zur Isolierung verwendet werden, haben die neuen Entwicklungen verschlafen. „In den letzten Jahren hat sich der Anteil der Dachbegrünung vor allem im Speckgürtel rund um Berlin erhöht“, so Rudolf. Aber nicht nur Dächer können in den Genuß einer grünen Außenhaut kommen. Vieles sei „naturierbar, beispielsweise auch die Betten von Bahngleisen“. Das gelte selbst für die Kreuz- und Prenzelberger Hochbahn. „900 Quadratkilometer beträgt die Stadtfläche Berlins, davon sind 300 Quadratkilometer hochgradig versiegelt. Ein Viertel bis die Hälfte dieser Fläche ist naturierbar“, schätzt Rudolf. „Naturierung“ heißt soviel wie „Begrünung“. Nur gaukelt der Fachbegriff nicht vor, daß die Flächen auch im Herbst und Winter grün seien.

Am 15. September soll die Verlängerung der Linie 23 zwischen Bornholmer und Osloer Straße ein Biotop-Gleisbett erhalten. „Steinbrech- und Dickblattgewächse werden nur 15 bis 20 Zentimeter hoch und haben damit ideale Straßenbahnmaße“, sagt Rudolf, „und der Einsatz von Herbiziden gegen wild wucherndes Unkraut erübrigt sich dann.“