Moskau–Berlin praktisch

In seiner neuen Spielstätte Laborph wagte das Orphtheater ein deutsch-russisches Experiment: „Verbrechen und S.“ nach Dostojewski  ■ Von Kathrin Tiedemann

Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit hat sich über die Sommermonate in Prenzlauer Berg ein neuer Ort für Theater etabliert: das Laborph in der Sredzkistraße 64. Hier, in einer Hinterhausetage im vierten Stock ist das Orphtheater zu Hause, eine der wenigen freien Gruppen in Berlin, die sich noch als festes Ensemble versteht.

Die für 1995 ausgebliebene Projektförderung durch den Kultursenat nahmen der Regisseur Thomas Roth und ein Teil der Spieler zum Anlaß, die Gruppe zu verlassen. Plötzlich standen die Übriggebliebenen Schauspieler ohne künstlerischen Leiter da. Aber Antje Görner, Matthias Horn, Uwe Schmieder und Susanne Truckenbrodt suchten keinen neuen Kopf, sondern erinnerten sich daran, daß schon immer jeder seinen eigenen hatte. Jetzt bilden sie für sich eine Gruppe, in der jeder für alles verantwortlich ist.

Seit 1990 hat das ursprünglich aus Schauspielern ostdeutscher Staatsbühnen und Mitgliedern des Pantomimentheaters Prenzlauer Berg hervorgegangene Ensemble an einer auf Körpergesten basierenden Theatersprache gearbeitet. Die systematische Perfektionierung und Disziplinierung ihres Ausdrucksrepertoires hatte zuletzt in eine Sackgasse geführt. Die Spieler spürten, daß sie immer mehr den Kontakt zu den Zuschauern verloren. Nun bot sich die Chance einer künstlerischen Neuorientierung.

Der erste Schritt bestand darin, ihre Arbeitsstätte im laufenden Probenprozeß dem Publikum zu öffnen. Der nicht einmal 100 Quadratmeter große, relativ niedrige Raum sieht aus, als hätte er seit mindestens 50 Jahren keine frische Farbe mehr gesehen. Diese verlebte Umgebung mit all ihren Unebenheiten liefert genau den richtigen Untergrund für die orphischen Theaterwelten, die hier entstehen.

Indem das Ensemble auf große Räume sowie den Wettlauf mit den visuellen Techniken der modernen Bildmedien verzichtet und sich ganz auf die schauspielerische Arbeit konzentriert, recycelt es mit dem Laborph letztlich das Konzept des „armen Theaters“ von Jerzy Grotowski, dem polnischen Urvater des Freien Theaters. In seinem Hauptwerk „Für ein armes Theater“ schrieb dieser 1964: „Szenen sollen sich Auge in Auge mit dem Zuschauer abspielen, er soll sich in Reichweite des Schauspielers befinden, so daß er seinen Atem spüren und seine Ausdünstungen riechen kann.“

Heftig schwitzen mußten hier nicht nur die Spieler, sondern auch an die 40 Zuschauer (für mehr ist kein Platz!), die im Juli bei tropischen Temperaturen auf engstem Raum auf wackligen Holzbänken aneinandergedrängt „Njuchin“ sahen, eine Bearbeitung des Tschechowschen Einakters „Vom Schaden des Tabaks“.

Dieser Monolog eines verschrobenen Kauzes (gespielt von Uwe Schmieder), der an einer merkwürdigen Apparatur pseudowissenschaftliche Experimente mit Wanzen durchführt und dabei nach und nach seine Lebensbeichte ablegt, war bei einem Gastspiel im Moskauer Teatr na Krassnoj Presnje im Dezember 1994 spontan zu einem Drei-Personen-Stück erweitert worden. Matthias Horn hatte den Text auf der Bühne ins Russische übersetzt, und Andrej Ljubimow vom Teatr na Krassnoj Presnje spielte einen zweiten, russischen Njuchin. Nach dieser zweisprachigen Aufführung beschlossen alle Beteiligten seinerzeit, die deutsch-russische Koproduktion „Verbrechen und S.“ nach Dostojewskis Roman „Schuld und Sühne“ zu wagen, die seit Donnerstag im Laborph zu sehen ist.

Vor einem Vierteljahr reiste Andrej Ljubimow dann mit fünf Schauspielern, einer 80 Seiten starken Textfassung und einem fertigen Konzept für ein philosophisches Dialogstück mit drei doppelt zu besetzenden Rollen aus Moskau an. Auf welches Experiment man sich eingelassen hatte, ahnte damals niemand. Nicht nur zwei Sprachen, sondern zwei völlig unterschiedliche Theaterauffassungen prallten im folgenden aufeinander, und mehrere Übersetzer sprangen ab, da sie der heftigen Emotionalität von beiden Seiten nicht gewachsen waren.

Während die einen von „ihrem“ Dostojewski ausgehend Szenen arrangieren wollten, weigerten sich die anderen, Sätze zu sprechen, die sie sich nicht zuvor durch szenische Improvisation erspielt hatten. Dem Orphtheater ging es vor allem um die politische Dimension des Fanatismus' der Hauptfigur: Der verarmte Student Raskolnikoff begeht einen Doppelmord an einer alten Pfandleiherin und ihrer Schwester, zu dem er sich durch eine krude faschistoide Theorie selbst ermächtigt, nach der es „ungewöhnlichen“ Menschen gestattet ist, „gewöhnliche“ Menschen umzubringen.

Die russischen Spieler wollten aber kein politisches Theater machen. Mehrmals eskalierten die Auseinandersetzungen soweit, daß ein Abbruch der Proben die einzige Lösung schien. Es lief schließlich darauf hinaus, daß Susanne Truckenbrodt eine neue Textfassung montierte, die weitere Figuren und das Petersburger Milieu um 1850, in dem die Geschichte spielt, berücksichtigt.

Diese Fassung wurde ins Russische zurückübersetzt, und man probte nebeneinander mit zwei Regisseuren, die beide auch mitspielen, an zwei Fassungen, aus denen in den Endproben eine gemeinsame zusammengesetzt wurde. Das klingt so fürchterlich kompliziert, daß es schon an ein Wunder grenzt, daß dabei ein sehr lebendiger zweisprachiger Theaterabend herausgekommen ist.

Zwar sind die widerstreitenden Spielweisen noch deutlich zu erkennen, aber besonders in den von Susanne Truckenbrodt inszenierten Bildern finden sie einen gemeinsamen Rhythmus, so daß es nach ganz kurzer Zeit nicht mehr stört, daß man bei den wunderbar klingenden russischen Passagen auf den Wortsinn verzichten muß. Die einfachen und klaren Situationen erschließen sich fast mühelos, vorrausgesetzt man hat zumindest eine ungefähre Ahnung von der Romanhandlung.

Von der Decke des Bühnenraums hängen zerfetzte Windeln als Spinnweben herab, und auch die Schauspieler sehen aus, als wären sie just aus einer jahrhundertealten Staubschicht hervorgekrochen. Von einer zweistöckigen Tribüne blicken die Zuschauer auf verschiedene Schauplätze, über die – wie in einem Fiebertraum des unter Mordverdacht stehenden Raskolnikoff – die Szenen im schnellen Wechsel hinwegziehen.

Man wird hin- und hergerissen zwischen der Welt der Familie, die die Wandlung des vermeintlich Unschuldigen nicht versteht und der Welt des Untersuchungsrichters Porfiri, dessen psychologisch geschickten Verhörtechniken Raskolnikoff nicht gewachsen ist.

Mit unkontrollierten Wutausbrüchen hat er sich längst selbst als Täter entlarvt, auch wenn keine Beweise gegen ihn vorliegen. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis er sich in Porfiris Amtstube stellen wird, um den Weg ins Arbeitslager nach Sibirien anzutreten. Doch bis dahin ist noch etwas Zeit: Friedlich vereint und gelassen rauchend sitzen die Spieler am Schluß in einer Reihe vor der Zuschauertribühne. Gleichzeitig demonstrieren sie damit auch ihre Zufriedenheit mit dem Ausgang ihres Experiments.

Bis auf das Bezirksamt Prenzlauer Berg hatte übrigens niemand eine müde Mark für „Verbrechen und S.“ übrig, wie die zahlreichen freundlichen Absagebriefe im Programmheft dokumentieren. Auch nicht die Berliner Festspiele, die die Inszenierung gleichwohl in ihr Programm „Berlin–Moskau/Moskau–Berlin“ aufgenommen haben. Dabei ist diese Produktion doch ein Paradebeispiel für angewandten Kulturaustausch und wird sich im November auch vor russischem Publikum zu beweisen haben.

„Verbrechen und S.“, bis 3. 9. und vom 7. bis 10. 9., 22.30 Uhr, Laborph, Sredzkistraße 64