„Das Zimmer Ihres Fußballstars“

Östergötland ist eine von 24 schwedischen Provinzen. Mit provinziellen Reizen und landschaftlicher Schönheit will man seit dem Niedergang der Industrie Touristen locken  ■ Von Günter Ermlich

Zimmer 207. Weiches Doppelbett, genügend Freifläche, ordentliche Naßzelle. Behaglichkeit, aber kein Luxus. Ein Hotelzimmer mit VIP-Vergangenheit: Hier schlief und wusch sich Andy Brehme etwa zwei Wochen lang im Juni 1992. Noch heute hängt der Andy im DFB-Fußballdress schräg über dem Bett an der Wand und lächelt. Das Lächeln ist ihm später vergangen, denn bei der Fußball-Europameisterschaft 1992 im Land der Elche mußten Brehme, Buchwald und Co., wir erinnern uns, sich im Endspiel den Dänen geschlagen geben.

„Der DFB hat sein bestes Pferd im Stall“, titelte damals ein deutsches Boulevardblatt und meinte damit das „Hotel Stallet“, Quartier des DFB-Trosses. Ein ehemaliger Pferdestall, 1857 im neoklassizistischen Stil für das nahe Kupferbergwerk gebaut. Wo früher 80 Arbeitspferde standen, nächtigen heute Touristen in 66 Zimmern. Ein Hotel im Breitwandformat: die weiß getünchte Fassade ist 80 Meter lang, auf dem Rasengeviert davor hohe Stangen mit gehißten Willkommens-Nationalfahnen, dazu eine dekorativ plazierte Pferdekutsche. Alles blitzblank und aufgeräumt. Wie das ganze Kleinstädtchen Atvidaberg in der mittelschwedischen Provinz Östergötland. „Wir leben hauptsächlich von Tagungen und von Busgruppen, die auf der Durchreise zum Nordkap sind“, erzählt uns Ulla Köhler, die mit ihrem Gatten Bertil das Hotel gepachtet hat. „Auf Voranfrage reservieren wir Ihnen gern das Zimmer Ihres Fußballstars“, lockt der Hotelprospekt.

Jahrhundertelang lebte der kleine Ort vom Kupferbergbau. Auf der Weltausstellung in Paris bekam das Atvidaberger Kupfer 1889 sogar den ersten Preis. In den fünziger und sechziger Jahren dieses Jahrhunderts war der Industriekonzern Facit mit seinen Rechenmaschinen weltweit erfolgreich. Heute müssen die Leute aus Atvidaberg zur Arbeit nach Norrköping oder Linköping pendeln, wo der Fahrzeug- und Flugzeughersteller Saab-Scania den Arbeitsmarkt beherrscht.

Einige Spuren der glorreichen Kupferbergbauzeit gibt es in Atvidaberg noch zu besichtigen: Die Hüttenstraße „Verksgatan“ mit Holzhäusern aus dem 18. Jahrhundert, ein altes Bergwerk mit Förderturm, das Heimatmuseum. Ein ohrenbetäubendes Touristenspektakel hält der Kanonenturm bereit: Wenn mittags durch eine senkrechte Spalte die Sonnenstrahlen einfallen, entzünden sie mit Hilfe eines Brennglases das Pulver der „Sonnenkanone“.

Die letzte „wichtige Jahreszahl“ der Ortschronik, 1972, handelt wieder vom Fußball: „Der Fußballclub AFF gewinnt die schwedische Liga und wiederholt den Sieg im Jahr darauf.“ Im Oktober 1973 fand daraufhin im kleinen Stadion Kopparvallen das größte Dorffest aller Zeiten statt. Das Europapokalspiel gegen die großen Münchner Bayern mit Beckenbauer und Schwarzenbeck. Ganz Atvidaberg, mithin 12.000 Zuschauer – Atvidaberg zählt nur 13.000 Einwohner – bejubelte ihre Elf um Conny Torstensson, die sich erst im Elfmeterschießen geschlagen gab.

Östergötlands Visitenkarte in aller Kürze: eine von 24 schwedischen Provinzen, südlich von Stockholm gelegen zwischen Vätternsee und Ostseeküste, so groß wie Schleswig-Holstein, gut 400.000 Einwohner, die bekanntesten Städte auf -köping (Marktplatz) endend wie Linköping, Norrköping, Söderköping, über 2.500 Seen, zwei Schärengärten, Sankt Anna und Gryt.

„Blau wie der Himmel im Sommer, blau wie das weite Meer oder wie die fernen Berge, so blau ist die Kornblume, das Wahrzeichen Östergötlands. Das ist auch die vorherrschende Farbe im östergötländischen Archipel.“ Soweit der O-Ton des Werbevideos.

Fehlt nur noch der Götakanal, „Schwedens blaues Band“, der auch Östergötland durchzieht. Dabei ist die Schleusentreppe bei Berg ein besonderes Highlight: sieben gekoppelte Schleusen vom See Roxen hoch zur Landstraßenbrücke, 18 Meter Höhenunterschied, eine Stunde Schleuszeit. Auf einer organisierten Räktour, einer Schleusenfahrt mit Garnelen und Shrimps, Aquavit und Bier, steigt einem das dauernde Geschleuse ganz schön zu Kopf. Dabei könnte man glatt vergessen, daß der einst so wichtige Gütertransportweg von 58.000 Soldaten und Strafgefangenen in 22jähriger Schufterei per Hand ausgeschaufelt wurde. Schwedens größtes Bauwerk, 1978 vom Staat übernommen, dient heute noch als touristische Wasserstraße für Motor- und Segelboote sowie Ausflugsdampfer.

Also alles blau in Östergötland? Mitnichten, denn zumindest im Sommer ist die Farbenpalette mächtig multikolor: Saftig grüne Wiesen, gelber Raps und roter Mohn, rostrote Holzhäuser. Im EM-Mannschaftsbus der deutschen Fußballnationalmannschaft kutschieren wir durch blühende Landschaften. Wenig Verkehr, trotz der schwedischen Schulferien. Eine Idylle, auch ohne Blick durch die rosarote Brille.

Nur, wie läßt sich dieser Landstrich touristisch vermarkten? 1992 hat die schwedische Regierung die staatliche Tourismusorganisation abgeschafft. Seitdem muß sich die Tourismuswirtschaft selbst organisieren, zahlen und werben. Doch in der gesamten Provinz Östergötland gibt es keine koordinierende Tourismusstelle, keine Buchungszentrale.

Daran will Siv Moberg, eine ehemalige Lehrerin, in privater Regie etwas ändern. Sie findet es „ein bißchen unglücklich“, daß es in Linköping (immerhin Schwedens fünftgrößte Stadt) allein vier verschiedene Hotels gebe, die Tourismusbüros unterhalten. „Und jemand, der einen Campingurlaub machen will, der geht ja nicht ins Hotel, um sich zu informieren, oder?“

Wir machen einen Abstecher in den Schärengarten Sankt Anna vor der ostschwedischen „blauen Küste“. Auf der MS Ida schippert uns Kapitän Karl Bergström durch die Inselwelt der Schären, dieser tausendfachen Wiederholung kleiner bewaldeter Felsen. In der extrem kurzen Touristensaison, Mitte Juni bis Mitte August, fährt er 30 bis 40 Besucher pro Tag zur bewohnten Insel Harstena. Kein Tourismus der großen Zahl, „aber in den letzten zehn Jahren sind immerhin doppelt so viele Besucher gekommen“.

In der touristenfreien Zeit arbeitet Bergström als Holzfäller und kümmert sich um seine 60 Schafe und 100 Lämmer. Er führt penibel Buch, um den Überblick zu behalten, wie viele seiner Tiere auf welcher seiner zehn Inseln weiden. Denn die meisten der Klein- und Kleinstinseln im Schärengebiet sind privat. Im Winter, wenn das Wasser zufriert und eine 30 Zentimeter dicke Eisschicht ansetzt, muß der Kapitän mit dem Traktor übers Meer fahren.

Die küstennahen inneren Schären stehen im satten Waldesgrün. Je weiter wir in Richtung offenes Meer tuckern, desto kahler und grauer werden die Inselchen, die nackten Felsbuchten nehmen überhand. Nach einer Stunde Fahrt haben wir Harstena erreicht. Zwei Stunden Aufenthalt für Inselrundgang und Nahrungsaufnahme. Viel zuwenig Zeit, aber die Leute hier wollen ihre Ruhe. Ein bißchen Tagestourismus im Sommer, das reicht ihnen. Acht leben rund ums Jahr hier, in den Sommerferien sind es um die 80, alles Verwandte und Bekannte. Thure, der 68jährige „Lebenskünstler“ und Ex-Robbenfänger, ist einer der Stamminsulaner. „Vällkommen till Thures Udde“ steht oben an seinem Häuschen mit Veranda und Meeresblick. Schon von weitem riecht es nach rökt fisk. Im Sommer verköstigt er hungrige Touristenmäuler mit seinem „Schärengartenteller“: Aal, Flunder, Saibling, Hering, Makrele, Lachs, alles geräuchert. Dazu ein kühles Bier.

Nur gut, daß uns Thure von seinen guten alten Robbenzeiten erst nach dem Meeresmahl vorschwärmt. Er zeigt ein Foto von 1947. Vor lauter Robben sieht man das Meer nicht. Damals gab es noch 30- bis 40.000 Robben im Schärengebiet, erzählt er. Heute seien es gerade noch 70 in den äußeren Schären. In den sechziger Jahren, als die Robben in ganz Schweden unter Schutz gestellt wurden, mußte Thure auf Fischerei umsatteln. Wie auf einen Eishockeyschläger stützt er sich auf sein Schlagholz, ein Familienerbstück aus dem 18. Jahrhundert. Früher sei es vorn mit großen Dornen versehen gewesen. Thure hebt den Totschläger hoch. „Zack, ein kurzer Schlag auf den Kopf, und die Robbe war tot.“ Die ganze Robbe wurde verwertet, das Fleisch und das Fell. „Aus den Fellen haben wir Handschuhe gemacht. Die waren kaum kaputt zu kriegen. Straßenbahnarbeiter haben sie benutzt, um die Weichen umzustellen.“

Wer genug von diesen Robbengeschichten hat und mehr auf Elche steht, aber immer noch keinen der 300.000 schwedischen Schwergewichte in freier Wildbahn gesichtet hat, der begebe sich wie täglich 6.000 bis 7.000 Gleichgesinnte in Kolmardens Djurpark bei Norrköping. „Elchsafari mit Garantie“ schmunzelt der Direktor, wird aber sogleich wieder ernst. „Wir sind ein Tierpark, kein Zoo.“ Im Schrittempo durchquert unser Bus die fünf geschlossenen Abteilungen des 65 Hektar großen Areals. Europas größter Safaripark. Verschiedene Tierarten, die sich vertragen, leben gemeinsam im Gehege, so die Unternehmensphilosophie. In der Skandinavien- Abteilung sind dies Elche, Damm- und Rothirsche.

Wer noch ein Mitbringsel braucht, der bekommt es im Souvenirshop. Ein luftdicht verschlossenes Plasteglas voller bräunlicher Kügelchen: „Elchlosung“.

Information: ÖstgötaResan AB, Tourist Information Östergötland, Box 6125, S-58006 Linköping,

Tel./Fax 0046 (0) 13135484.

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