Die Suche hinter dem Blumenvorhang

■ Unterwegs zu den Slums von Tahiti, müssen Journalisten und evangelische Diakone feststellen, daß sie dem sozialen Wohnungsbau gewichen sind – und keiner freut sich

Papeete (taz) – Mit der Bombe kam das Geld nach Französisch- Polynesien – aber auch die Armut. Von den vermeintlichen Reichtümern der Stadt angelockt, verließen viele Polynesier ihre Inseln auf der Suche nach dem Glück. Wer jedoch keine Arbeit fand auf Moruroa oder in der Verwaltung etwa, der blieb allzuoft, was er bei seiner Ankunft auf Tahiti war: Strandgut. Zwanzig Prozent der Einwohner seien aus dem regulären Wirtschaftskreislauf ausgeschlossen, gibt die polynesische Regierung zu.

„Hinter dem Blumenvorhang“, so taufte ein Filmteam vor einigen Jahren seinen Report über die Armut auf Tahiti. Denn die Hauptstadt Papeete mit ihren modernen Büro- und Apartmentblocks und ihrem Verkehr unter den Alleebäumen, das sei ja nur die Fassade. Hinter dem Blumenvorhang wollten wir daher suchen – zwei Journalisten, eine französische Anti- Atom-Aktivistin und ein Mitarbeiter der evangelischen Kirche Tahitis.

Unabhängigkeitspartei will kein Geld für Häuser

Frühmorgens, vor der Abfahrt, rief mich André an, ein älterer Franzose, der in Papeete ein Möbelgeschäft betreibt. „Es ist gut, Mademoiselle Nicole, daß Sie sich für die sozialen Fragen interessieren. Aber, Mademoiselle Nicole, ich lebe seit elf Jahren hier, und ich möchte vermeiden, daß Sie ungerechte Sachen über mein Land schreiben, irgend etwas Schmutziges. Sie müssen wissen, Mademoiselle Nicole, schlimme Behausungen gibt es nur in der Stadt Faa. Und Sie wissen ja, das ist die Stadt, wo Oscar Temaru, der Chef der Unabhängigkeitspartei, Bürgermeister ist. Der französische Staat baut uns überall Sozialwohnungen, und nur Faa weigert sich, solche Häuser bauen zu lassen. Voilà, Mademoiselle Nicole, da sehen Sie, wie die Unabhängigkeitspartei Politik zu machen versucht mit der Armut.“

„Ha!“ rief der evangelische Diakon Jean, als ich ihm das erzählte. „Ha, nur in Faa soll es Slums geben? Der Mann lebt seit elf Jahren hier, behauptet, das sei sein Land, und hat nichts gesehen und nichts begriffen.“ Und wir fuhren los, die steilen Berge hinter Papeete hinan, das nur ein schmales Band vor dem Meer ist, kaum drei Häuserblocks tief. Grün ist es da, überall wachsen Bananenstauden, rot und gelb blühende dichte Bäume und Büsche, dazwischen stehen aus Holz gebaute Häuser, bevorzugter Anstrich: klogrün.

„An den steilen Hang gebaut sind die Hütten da oben in den Slums. Da kann man nur auf ungeteerten Wegen hochklettern, die in der Regenzeit ab Oktober zu glitschigen Rutschbahnen werden“, erklärt Jean, der seit sechs Jahren nicht mehr ständig auf Tahiti lebt. Wir fahren auf gutgeteerten Straßen weiter und weiter hinauf. Die Holzhäuser werden kleiner, in den Gärten wuchert es wilder. Strom- und Wasseranschluß sind aber jedenfalls vorhanden, jedes Haus hat seinen Garten. Jean wird immer nervöser, wir anderen warten sehnsüchtig auf die Bestätigung unserer Vorurteile gegen die französische Kolonialmacht.

Wir fahren jetzt parallel zum Vulkangebirge, das Tahiti darstellt. Die kleinen Häuschen machen kleinen Reihenhäusern Platz, die neueren alle mit Sonnenkollektoren auf dem Dach: sozialer Wohnungsbau, wie Diakon Jean zähneknirschend erklärt. Er wisse auch nicht, wo hier noch Slums seien, gibt er zu. Vielleicht noch weiter oben?

Aber hier jedenfalls, wo früher das Elend hauste, sei das doch jetzt alles ganz ordentlich. „Ja, ähem, da sollten wir uns doch eigentlich freuen“, versucht die fanzösische Aktivistin Jean aufzumuntern mit einer Stimme, die deutlich das Gegenteil durchklingen läßt.

Wir versuchen es in Papeetes Nachbargemeinde Faa. 10.000 Menschen sollen hier in Bidonvilles, wie die Elendsviertel auf französisch genannt werden, leben – ein Drittel der Einwohnerschaft. Wir fahren wieder hangauf, hangab. Dasselbe Bild: zumeist aus großen Platten zusammengenagelte Holzhäuschen unter wucherndem Grün. Unter den Wellblechdächern mit einem Dutzend Kindern auf schätzungsweise 20 bis 30 Quadratmetern zu wohnen, das ist ganz sicher nicht luxuriös, aber das massierte Elend ist es auch nicht. Am Straßenrand stehen große Müllcontainer auf Rädern.

Endlich, am Strand direkt neben dem Luxushotel Maeva Beach, stoßen wir auf eine echte Barackensiedlung. Kinder, nur mit Höschen bekleidet, spielen im Schlamm, Hühner laufen umher. Kokospalmen, Papayabäume und Bananenstauden wachsen wie Unkraut.

Was bleibt, ist der Glaube, daß irgend etwas falsch ist

Auf der Veranda vor einer der Hütten steht eine junge Tahitianerin mit Badeanzug und einem Pareo, einem Batikwickelrock, um die Hüften, winkt, und wir treten ein. Ein paar einfache Harpunen lehnen in der Ecke, ein Sofa mit Häkelüberdecke steht gegenüber einem Fernseher. Die Unterhaltung holpert vor sich hin. Ungefähr so:

„Gibt es viel Armut hier?“ – „O ja, viel Armut.“

„Und viele Menschen müssen in Slums leben?“ – „Viele.“ Heftiges Kopfnicken.

„Leben Sie gerne hier, oder würden Sie lieber woanders leben?“ – „Wir leben gerne hier.“

„Die Häuser hier sind nicht so schlecht?“ – „Ja, sie sind hübsch. Wir wohnen gerne hier.“

„Und die Häuser da oben am Hang, die sind auch ganz hübsch?“ – „Ja, sie sind auch hübsch.“

„Gibt es hier gar keine Slums?“ – „Nein, keine.“

Später erfahren wir, daß die Kommune von Faa sich tatsächlich weigert, vom französischen Staat Geld für den Bau von Sozialwohnungen anzunehmen. Aber eines bleibt uns, was wir dem Möbelhändler André aus Nancy immer noch nicht glauben: daß dies sein Land sei. Nicola Liebert