Leibesvisitation vor Betreten des Rasens

■ Erstmals bot der Tegeler Knast den Insassen ein Open-Air-Konzert. Nur jeder sechste durfte mitrocken. Knackis glauben, Konzert soll „langen Riegel“ versüßen

Als die acht türkischen Rapper die Bühne betreten, kommt Bewegung auf den Rasen. Etwa dreißig Insassen, vorwiegend Türken, wollen den Klängen, die ihnen aus dem Herzen sprechen, so nah wie möglich sein. Das veranlaßt auch die Aufpasser, sich besorgt der Bühne zu nähern. Murat, Sprecher der ausländischen Gefangenen, der mit seinem blauen Anzug und der rot-weißen Krawatte dem Anstaltsdirektor modisch Konkurrenz macht, reißt sich die Krawatte vom Hals. Für wenige Minuten fühlt er sich frei. Doch kurze Zeit später wird das nur noch Erinnerung sein. Dann wird er in seiner Zelle auf die Bestandsüberprüfung warten.

Der Männerknast in Tegel als Versuchsgebiet für ein bisher einzigartiges Experiment – erstmals in ihrer Geschichte hat die Anstaltsleitung der Justizvollzugsanstalt (JVA) ihre „Bewohner“ zu einem Open-Air-Konzert hinter Mauern und Stacheldraht geladen. Leibesvisitation vor Betreten des Rasens, Dutzende von Aufpassern. Der Anstaltsleiter spricht von nur zwanzig, doch ein kurzer Blick über den Rasen straft ihn Lügen. Viele der Bediensteten sind mit einem Stöpsel im Ohr mit der Zentrale verbunden. „Wie beim FBI“, spottet ein Knacki. Generalstabsmäßige Vorbereitungen sollen verhindern, daß nach dem Konzert mit der Knastband „Böse Überraschung“, der Rockband „Element of Crime“ und der türkischen Rap- und Hip-Hop-Band „Cartel“ das eine oder andere der zweihundertfünfzig zugelassenen Schäfchen nicht in seine Zelle zurückkehrt.

Der Sportplatz, auf dem das Experiment stattfindet, ist ein heißes Eisen. Die Mauer dort ist niedriger als in irgendeinem anderen Teil des weitläufigen Geländes. Keiner weiß, wie all die kleinen und großen Gauner auf den Rock der Band mit dem Namen „Element of Crime“ oder die nicht weniger knastmäßig klingenden Rapper „Cartel“ reagieren. Werden die Bässe und Texte unterdrückte Sehnsüchte, wird der Geruch von Holzkohle den Wunsch nach Freiheit wachrufen? „Man muß mal eine Ausnahme vom Prinzip machen“, begründet Anstaltsleiter Klaus Lange-Lehngut das Konzert, das von der sozialpädagogischen Abteilung der JVA, dem Verein „Kunst und Knast“ und der Berliner Aids-Hilfe organisiert wurde.

Großzügig zeigt sich die Anstaltsleitung an diesem Nachmittag auch den Journalisten gegenüber. Stundenlang können sie mit den Knackis reden. Zweihundertfünfzig Betrüger, Vergewaltiger und Mörder sitzen oder stehen in kleinen Grüppchen auf dem Rasen. Stefan, der mit 22 Jahren einen Mann erschlug, Matte, der wegen versuchten Mordes und mißglückter Flucht seit 1978 einsitzt, Horst, der behauptet, die zwei Vergewaltigungen, die ihn hinter Gitter brachten, „zu 99 Prozent nicht begangen“ zu haben. Ob langhaarig oder kahlrasiert, ob im Jogginganzug oder in Jeans – geduldig warten die Gefangenen darauf, ihre Essen- und Getränkegutscheine gegen Bratwurst, Nudelsalat und nichtalkoholische Getränke einzutauschen.

So verschieden wie ihre Geschichten sind auch ihre Reaktionen auf das Konzert. Nur wenige sind uneingeschränkt begeistert, so wie der Mann mit dem langen Bart, der wie in Trance über den Rasen tanzt und vom „Flair der Waldbühne“ spricht. Stefan dagegen schimpft wie viele andere über den Pseudocharakter. „Im Hinterkopf weiß ich, daß das nur für Außen ist. Sonst würde die Anstalt das öfter machen“, sagt er. In einem Punkt sind sich die meisten einig: Mit dem Konzert sollen die Knackis „ruhiggestellt“ werden. Denn seit gestern gilt der „lange Riegel“. Um die Überstunden der Bediensteten abzufeiern, werden die Zellen statt um 20 Uhr bereits drei Stunden früher geschlossen. Eine Entscheidung, auf die mehrere Gefangene mit Beschwerden, einer sogar beim Bundesverfassungsgericht, reagiert haben. Der Unmut ist groß, daß das Abbummeln der Überstunden auf ihrem Rücken ausgetragen wird. „Die Beamten selber sagen“, erregt sich Latif, der wegen Mordes einsitzt, „daß sie sich auf die Füße treten.“ Statt vier Bediensteter würden in einigen Häusern die Hälfte reichen, schimpft er. Barbara Bollwahn