Wenn das Wasser kommt

Klimaforscher: Steigende Nord- und Ostsee werden die Küstenlandschaft überfluten  ■ Von Manfred Kriener

Die Nordsee hat unerwarteten Besuch bekommen. Eine ganze Reihe „südlicher“ Fischarten, vor allem Anchovis und Sardinen, sind in den letzten Jahren zurückgekehrt. Und niemand weiß so recht, warum. Sind sie die Vorboten der Klimaänderung, lebender Beweis für die allmähliche Erwärmung der See? Im Dickicht möglicher Ursachen ist der Treibhauseffekt nur eine Hypothese von vielen – neben Strömungsveränderungen, besserer Wasserqualität und natürlichen Wanderungsbewegungen der Fische.

Doch die Wissenschaft hat in den letzten Jahren immer mehr Indizien für den Klimawandel gefunden. Auch ohne die Zeugenschaft von Sardine und Sardelle ist klar: Nirgendwo sonst werden sich hierzulande die Folgen des verstärkten Treibhauseffekts so heftig auswirken wie an den 3.160 Kilometern deutscher Küste. WissenschaftlerInnen haben im Rahmen des Forschungsprojekts „Klimaänderung und Küste“ die Konsequenzen zusammengefaßt. Meeresspiegel- und Temperaturanstieg, häufige Sturmfluten, der Bau einer neuen Deichlinie, das Verschwinden des Watts, das Ende der Boddenlandschaft an der Ostsee und das „Wegspülen“ einzelner Inseln – all das erscheint im kommenden Jahrhundert wahrscheinlich.

Interessanterweise wollen ausgerechnet die Betroffenen es gar nicht so genau wissen: Die Küstenländer – vor allem Niedersachsen, aber auch Mecklenburg-Vorpommern – haben sich im Bund-Länder-Programm zur Erforschung der Klimafolgen bisher nur marginal mit Eigenmitteln beteiligt.

Zwischen 40 und 70 Zentimetern werden die Weltmeere im Durchschnitt bis zum Jahr 2.100 ansteigen. Exakter läßt sich das nicht vorhersagen. Fest steht nur eines: Nord- und Ostsee werden stärker steigen als die großen Ozeane. Die Ausdehnung des erwärmten Oberflächenwassers falle nämlich in den heimischen Flachmeeren stärker ins Gewicht als im tiefen Pazifik und Atlantik, erläutern die Küstenforscher Horst Sterr und Karsten Schmidt.

Der Blick zurück in die jüngste Erdgeschichte zeigt, daß der gegenwärtig menschengemachte Anstieg des Meeresspiegels in eine Periode „natürlichen“ Anstiegs fällt, die schon lange vor der Industrialisierung begann. Geologische Untersuchungen des Nordseebodens brachten Torf- und Wattablagerungen zutage: Die Küstenlinie hat sich demnach in den letzten 8.000 bis 10.000 Jahren um rund 300 Kilometer landwärts verschoben, der Wasserstand ist um 20 bis 50 Meter gestiegen – davon 20 Zentimeter in diesem Jahrhundert. Anthropogener und aktueller erdgeschichtlicher Anstieg verstärken sich also gegenseitig.

Die Folgen des landeinwärts dringenden Wassers sind schon lange spürbar, und sie sind teuer. In einem im Oktober erscheinenden Beitrag für die Oldenburger Uni-Zeitung Einblicke rechnet Horst Sterr allein für Niedersachen, Schleswig-Holstein und Hamburg mit notwendigen Investitionen von rund vier Milliarden Mark für die langfristige Sicherheit der Deiche und Häfen. Die nach der verheerenden Sturmflut von 1962 nachgebesserte Sollhöhe der Küstenschutzanlagen sei heute schon wieder überholt, die „langfristige Absicherung nicht mehr gewährleistet“.

Auch an der Ostsee müssen neue Bezugsgrößen her, fordert Sterr. Dort orientiere sich der Küstenschutz noch immer am Jahrhunderthochwasser von 1872. Doch bei einem ähnlichen Sturmhochwasser würden künftig „weite Areale der Küstenlandschaft und viele Küstenorte überflutet“.

Außerdem stürmt es häufiger. Die Orkanfluten von 1976, 1981, 1990 und 1992 haben in der Deutschen Bucht neue Höchstmarken gesetzt. Hamburg registrierte in vier Wintermonaten (Januar/Februar 1993/1994) fünf schwere und sehr schwere Sturmfluten. Inseln und Wattenmeer werden die Folgen von Stürmen und geliftetem Meeresspiegel besonders zu spüren bekommen. Vor allem die wenig widerstandsfähigen ostfriesischen Eilande sind gefährdet. „Arealverluste großen Ausmaßes“ sind zu erwarten, wenn Seegang und Brandung die Inselsubstanz anknabbern. Auch Sylt, wo eine Sturmflut im Februar 1992 bereits mehrere Hektar Düne weggerissen hat, und die mecklenburg-vorpommersche Küste (Rostocker Heide, Darß-Zingst, Hiddensee) schätzen die Küstenforscher Sterr und Schmidt als besonders verwundbar ein. Ihre Greifswalder Kollegen Wolfgang Janke und Heinz Kliewe erwarten, daß sich die Bodden an der Ostsee bei dem prognostizierten Anstieg des Meeresspiegels in „offene Meeresbuchten“ verwandeln. Die Landschaft wird umgepflügt.

Das Watt, bezaubernde Kinderstube, Laich-, Brut- und Aufzuchtstation für ungezählte Tierarten, wird ebenfalls sein Gesicht verändern. Die ForscherInnen sehen zunächst nicht nur negative Konsequenzen. Bei einer Erwärmung von zwei bis vier Grad erwartet der Sylter Wattspezialist Karsten Reise eine „Internationalisierung des Artenspektrums“ mit einer Zunahme der Vielfalt um bis zu 40 Prozent. Gleichwohl wird das Watt, bei steigendem Wasserspiegel und stärkerem Seegang, „in seiner horizontalen Ausdehnung beschnitten“ und „langfristig bedroht“ sein (Sterr).

Die teilweise dramatischen Auswirkungen des Klimawandels an der Küste münden indes nicht immer in blanke Horrorszenarien. Eine beinahe beschauliche Vision hat Küstenforscher Karsten Reise vorgelegt. Zu möglichen Vorsorgemaßnahmen schreibt er: Ein Ausweg wäre „die Abflachung einiger festländischer Seedeiche zu Sommerdeichen und der Neubau einer sicheren Seedeichlinie weiter binnenlands. Häuser müßten auf Wurten gesetzt werden. Landwirtschaftliche Betriebe müßten sich zu Besucherzentren in einem biologisch reichen und landschaftlich reizvollen Überschwemmungsgebiet entwickeln“.