■ Warum Günter Grass mit seinem neuen Roman „Ein weites Feld“ einen Sturm der Kritik auslöste
: Auf der Suche nach dem verlorenen großen deutschen Epos

So etwas kannte man eigentlich nur aus den längst vergangenen Zeiten des Sozialismus: daß ein Buch zur Gesellschaftsaffäre wird, daß sich die Öffentlichkeit über ein Buch ereifert, im Fernsehen Fragen der Poesie und der Seelenverfassung eines Schriftstellers erörtert werden. Ein Schriftsteller im Zentrum öffentlicher Erregung, die Literaturkritik auf den Titelseiten der Zeitungen, wo gewöhnlich die politischen Leitartikel stehen – freilich alles ohne Zensur, Publikationsverbot oder Verbannung.

Warum das im Sozialismus so war, wissen wir: Literatur war Ersatz für die fehlende demokratische Öffentlichkeit, für das Parlament, der Dichter wurde – ob er wollte oder nicht – zum Gewissen der Nation. Nirgendwo war der Respekt vor dem Dichterwort so groß wie im Reich der Zensur. Der literarische Skandal als Indiz für eine gesellschaftliche Anomalie.

Für die Bundesrepublik, wo es ein Parlament und Zeitungen gibt, in denen jeder sagen kann, was ihm beliebt, muß es – neben dem Betrieb, den es auch gibt – noch andere Gründe für soviel Aufregung geben. In der allgemeinen Enttäuschung über das „Scheitern des bedeutenden Schriftstellers“ meldet sich etwas zurück, von dem man geglaubt hatte, es sei vergangen: das „Land der Dichter und Denker“, in dem der Denker vollbringt, was der Gesellschaft versagt bleibt, und in dem die Kunst entschädigt für eine Wirklichkeit, die mit der Idee nicht mithalten kann. Das rettende Wort als Kompensation für die deutsche Misere, das Dichterwort als Ersatz für eine nicht ganz intakte Bürgeröffentlichkeit.

Das modern gewordene Deutschland hatte sich etwas darauf eingebildet, daß es weniger ein Land der Dichter und Denker, dafür um so mehr ein Land der „funktionierenden Demokratie“, der „Sozialpartnerschaft“ und des „höchsten Wohlstandes in der Welt“ geworden war. Das Land, in dem die Normalität der Kleinbürger triumphiert hatte, nahm ein Weniger an Geist in Kauf. 1989 erwartete man von „den“ Intellektuellen gar nichts mehr, im Gegenteil: sie waren verantwortlich für die Utopie, die gescheitert war, für die „Experimente“, die sich nicht bewährt hatten, für die Dritten Wege, die sich als nicht gangbar herausgestellt hatten. Nun soll das alles nicht mehr gelten.

Auf den Schriftsteller und Intellektuellen kommen Zumutungen zu, die soeben dementiert worden waren. Man wirft ihm vor, was man nach all den Demontageaktionen gar nicht mehr erwarten durfte: daß er das Werk, auf das alle warten, nicht geliefert hat. Die Kritik hat getan, was ihr Job ist: zu urteilen. Und ein bißchen mehr. Sie befand das Werk für unlesbar, seine Konstruktion künstlich, die Sprache gemacht und leblos. Sie befand, daß der Autor sich verrannt habe.

Warum aber sollte man so entsetzt sein, daß auch einem großen Schriftsteller etwas nicht gelungen ist? Vielleicht ist der Skandal nicht, daß es Grass nicht gelungen ist, sondern daß es auch einem anderen außer Grass nicht gelungen ist, das fällig gewordene Wort zu sprechen und den Ton zu treffen für alles, was in den letzten Jahren geschehen ist.

Es gibt etwas Trostloseres als die „Trostlosigkeit“ eines Romans. Vielleicht gibt die Geschichte den Stoff nicht her, aus dem ein Epos gemacht wird. Ein glücklicher Augenblick vor dem Brandenburger Tor trägt noch keine Geschichte. Die vielen miesen Stasi-Geschichten machten viele kleine Tragödien, aber keine „nationale Tragödie“. Viele „Wessis“, die durch die Gunst der Geschichte erst auf den Geschmack gekommen sind, machen noch keinen Kolonialismus, allenfalls einen Immobilienmarkt und expandierende Supermarktketten.

Es gibt nicht einmal die für „historische Ereignisse“ typischen großen Intrigen und Kabalen, sondern nur Manipulationen im Rahmen des Üblichen; im Land der nationalsozialistischen Großverbrechen ist es zudem nicht leicht, die „kleineren“ Verbrechen, die ihnen folgten, beim richtigen Namen zu nennen. Keine „geschichtliche Kraft“ hatte der Wende entgegengefiebert, die von wo anders kam. Der 9. November kam über Nacht, aus dem Munde eines Politbürofunktionärs. Wenig wurde herbeigeführt – die Einheit kam, als es soweit war.

Es bedurfte keiner Helden, denn die Schlachten, die alles entschieden hatten, waren anderswo geschlagen worden: in Danzig, Warschau, Moskau, Vilnius, Budapest, am Ende auch in Leipzig. Man mußte nur die Nerven behalten, um den günstigen Zeitpunkt nicht zu verpassen. Es gibt wenig zu berichten von einem langen und riskanten Kampf, in dem die Erfahrungen gemacht werden, die man „historisch“ nennen könnte. Es hat diesen Kampf kaum gegeben; kaum in Ost- und erst recht nicht in Westdeutschland. Die DDR in Agonie hatte ihre Helden für den Tag, die wieder in der Versenkung verschwanden, als alles gelaufen war, und die BRD hatte vor allem ihre Helden des Nachtrabs.

Die Zeit reichte nicht für die Erziehung von „Helden“. Sie gab es vorher, aber von ihnen spricht man nicht. Die „friedliche Revolution“, auf die das Land so stolz ist, hat ihm die Konvulsionen und dramatischen Szenen erspart. Das „Glück“ der deutschen Einigung lag in ihrer unprosaischen Geschäftsmäßigkeit. Man müßte also die deutsch-deutsche Geschichte, die auf die Wende hingearbeitet hat, erst noch erfinden. Deutschland war Nebenschauplatz, die Einigung ein Epiphänomen, Nachbeben einer Umwälzung, die anderswo stattgefunden hatte. Kein guter Stoff für große Dramen. Er läßt sich auch im Nachhinein nicht dramatischer machen als er war.

So folgt auf die vergebliche Suche nach dem Epos der deutschen Vereinigung die Entdeckung einer Geschichte, die für ein Epos wenig hergibt, und vielleicht die Entdeckung der Geschichte davor, die Geschichte des „Wartens auf Godot“.

Sie ist entweder schon – chiffriert – in der DDR-Literatur erzählt worden, oder sie wird noch erzählt werden von Leuten, die sich in ihr so gut auskennen wie Günter Grass seinerzeit auf dem weiten Feld der Danziger Trilogie – von Leuten aus der DDR. Karl Schlögel