Zwischen Entsetzen und Pragmatismus

50 Jahre hat es gedauert, bis in den Niederlanden eine Diskussion über die Kriegsgreuel in Indonesien begann. Der Dokumentarfilm „Tabee Toean“ läßt die Veteranen von damals erzählen – ein Tabubruch.  ■ Von Nathalie Hillmanns

Der Vergleich kommt nur zögernd über die Lippen: „Warum sind über die US-amerikanische Intervention in Vietnam so viele Filme gedreht, Bücher geschrieben, Diskussionen geführt worden – und über die holländische Militäraktion in Indonesien gibt es nach 50 Jahren so gut wie nichts?“ Der junge Mann stellt die Frage den beiden alten Männern, die vorne im Podium sitzen; es sind Veteranen. Sie blicken hilfesuchend zur Seite in Richtung Tom Verheul, Regisseur des Dokumentarfilms „Tabee Toean“, der in den Niederlanden eine ungewohnt emotionale Debatte entfacht hat. Keine Antwort. Schweigen. So wie in den letzten 50 Jahren Schweigen geherrscht hat über die vierjährige „politionele aktie“ 1946–49, die „Polizeiaktion“, wie sie noch heute euphemistisch genannt wird – und bei der besonders in den letzten Jahren des Krieges grundlos Dörfer niedergebrannt und junge indonesische Widerstandskämpfer im Reisfeld ertränkt wurden. „Es war eben ein Guerillakrieg“, versucht ein alter Mann aus dem Publikum zu erklären, „und wir haben doch dort für Ordnung gesorgt“.

Am 2. April 1595 machten sich die ersten niederländischen Schiffe auf den Weg nach Java. Es waren Kaufleute, Gewürzhändler, allen voran Jan Pieterszoon Coen, die die Engländer und Portugiesen vertrieben und den Stützpunkt Batavia gründeten, die heutige Hauptstadt Indonesiens, Jakarta. Sie gründeten ein imposantes Kolonialreich, das bis in die vierziger Jahre unseres Jahrhunderts hielt.

Holland schickte seine Söhne zum „Hilfseinsatz“

Am 17. August 1945, zwei Tage nach der Kapitulation der japanischen Invasoren, die 1942 ins Land einmarschiert waren, riefen Sukarno und Hatta die unabhängige Republik Indonesien aus. Doch die Holländer wollten ihr „Niederländisch-Indien“ nicht aus den Klauen lassen. In den Wochenschauen zeigte man verhungerte Babys und verwüstete Häuser, um der ebenfalls hungernden Nachkriegsbevölkerung in Europa die Notwendigkeit eines „Hilfseinsatzes“ glaubhaft zu machen.

Und die Mütter schickten ihre Söhne. Noch heute mutet es unglaublich an, wie die niederländische Regierung die Mittel aufbrachte, gleich nach dem Zweiten Weltkrieg 125.000 Soldaten samt Ausrüstung ins 15.000 Kilometer entfernte „Niederländisch-Indien“ zu schicken.

Tom Verheul hat im Film vier von ihnen nach Indonesien zurückbegleitet, an genau die Orte, an denen es geschah. Wim Schot läuft eine staubige Straße entlang. Häuser rechts und links. „Ich war der vorderste Posten in der Patrouille“, erzählt er. Er weist auf eine Straßenecke. Plötzlich sah ich hier einen jungen Mann, der mich entgeistert anstarrte. Ich ging auf ihn zu, packte ihn und schnitt ihm die Kehle durch.“ Die Stimme bricht. „Ich hatte Angst.“

Schnitt. Schot geht auf einen alten Mann zu, der vor einem Haus hockt. „Kennen Sie einen jungen Mann, der hier vor 50 Jahren von einem holländischen Soldaten erstochen wurde?“, fragt er ihn auf holländisch. Der Alte antwortet auf die Frage des Dolmetschers: „Ja, es war mein Neffe.“ Schot fällt vor ihm auf die Knie, drückt ihm die Hände und bittet ihn um Verzeihung. „Ja, ich vergebe dir“, sagt der Alte, seltsam unberührt von der Dramatik des Augenblicks.

Die Diskussion in den Niederlanden um die Kriegsgreuel in Indonesien schwankt zwischen Entsetzen und Pragmatismus. „Aufträge in Höhe von einer Milliarde Gulden aus Indonesien mitgebracht. Große Beute für unsere Unternehmen“, titelte der Telegraaf aus Anlaß des Besuches von Königin Beatrix in Indonesien letzte Woche. Selbst die liberale Volkskrant widmet den Hinweisen auf die Menschenrechtsverletzungen unter dem jetzigen Präsidenten Suharto mehr Platz als denen der Vergangenheit.

Tom Verheul, einer der bekanntesten Dokumentarfilmer in den Niederlanden, hält sich in „Tabee Toean“ mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen zurück. „Ich habe den Film auch für die Veteranen gemacht“, sagt er. Es sei für sie die erste Gelegenheit gewesen, über ihre schrecklichen Erlebnisse sprechen zu können. „Früher habe ich nur meiner Enkelin von Indonesien erzählt, jetzt habe ich bei Tom Verheul ein offenes Ohr gefunden“, erklärt Gerrit Kersten und blickt den Regisseur während einer Podiumsdiskussion beinahe liebevoll an.

„Ja, natürlich habe ich Menschen umgebracht“

Der Rentner ist in dem Film nur in seinem Wohnzimmer zu sehen, im Lehnstuhl sitzend. Die Kamera schwenkt über gehäkelte Deckchen und Porzellannippes. Mühsam entlockt Verheul ihm Details über Erschießungen, Folterungen, Demütigungen. Kersten lehnt sich vor und zurück, jede Frage wird aus der Sicherheit des Lehnstuhls prüfend beäugt, die Antwort spuckt er aus dem Sessel nach vorne, dem Fragesteller ins Gesicht. „Ja, natürlich habe ich Menschen umgebracht, aber ich bin kein Verbrecher, meine Familie liebt mich“, kommt es trotzig über seine Lippen.

Er leidet noch heute unter den Bildern in seinem Kopf; sie sind ständig präsent, besonders in der Nacht. „Selbst die Nachbarn wissen es, ich schreie viel.“ Vor zehn Jahren hätte er sich beinahe umgebracht, keiner wußte so genau warum. Dann wurde seine Enkelin geboren und das Leben ging wieder weiter.

Mit dem Regisseur zurück nach Indonesien zu gehen, das hatte sich Gerrit Kersten nicht getraut. Auf die Gründe hierfür angesprochen, reißt er das Mikrophon an sich, und fast schreit er es heraus: „Ich war doch einmal heimlich da, aber das durfte keiner wissen.“