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„Es geht nicht um Siegerjustiz“

■ Seit gestern wird vor dem Bundesgerichtshof gegen fünf ehemalige DDR-Richter und -Staatsanwälte wegen Rechtsbeugung verhandelt. Strafbar sind „Willkürakte“

Berlin (taz) – Nicht jede unrichtige Rechtsanwendung durch Staatsanwälte oder Richter der DDR ist als Rechtsbeugung zu qualifizieren. Geahndet werden könnten nur „Willkürakte“, so der 5. Senat des Bundesgerichtshofs (BGH) im Dezember letzten Jahres, die als „Menschenrechtsverletzungen“ zu werten seien. Eine solche Verletzung könne auch dann vorliegen, wenn „die verhängte Strafe in einem unerträglichen Mißverhältnis“ zu der bestraften Handlung gestanden hat. Seit gestern hat der Senat wieder über fünf Fälle zu urteilen, bei denen verschiedene Kammern des Berliner Landgerichts neben einem Freispruch zu Verurteilungen zwischen acht Monaten auf Bewährung und drei Jahren Freiheitsstrafe gekommen waren.

Ist es ein Willkürakt, wenn ein DDR-Staatsanwalt seinem Vorgesetzten zwei DDR-Bürger meldet, die eine „Vereinigung der Ausreisewilligen“ anmelden wollten, und diese Bürger in der Folge in Haft kommen und verurteilt werden? Ist es ein Willkürakt, wenn eine Strafe für einen DDR-Bürger beantragt wird, der mit seinem DDR- Paß an die DDR-Grenze fuhr und diesen dort zwecks Ausreise vorlegte? Und was ist mit der einjährigen Strafe, die eine DDR-Bürgerin dafür erhielt, daß sie ihr Fenster mit dem Buchstaben „A“ – wie Ausreise – geschmückt hatte?

„Es geht nicht um die Anwendung von Siegerjustiz“, sagte der Bundesanwalt Rolf Heldenberg gestern in der mündlichen Verhandlung, „es geht um die Anwendung rechtsstaatlicher Grundsätze.“ Er meint, daß die DDR, wenn sie sich nicht hätte wiedervereinigen lassen, sondern sich selbst aufgearbeitet hätte, „in einem Akt der Selbstreinigung“ die Richter und Staatsanwälte zur Verantwortung gezogen hätte. Er konzidiert, daß neben den damals geltenden Gesetzen die „Wertvorstellungen“ des untergegangenen realsozialistischen Systems zu berücksichtigen seien.

Auf ebendiese Wertvorstellungen bezieht sich die ehemalige Staatsanwältin Gudrun Benser, die vom Landgericht zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren verurteilt wurde. „Wir sind in der DDR grundsätzlich davon ausgegangen, daß die Strafen nicht vollzogen werden, sondern um die Hälfte oder mehr als die Hälfte verkürzt würden.“ Sie fordert Gerechtigkeit, und das bedeutet für sie „Freispruch“. Denn, so Gudrun Benser: „Ich habe mich immer an die zentralen Anweisungen gehalten.“

Matthias Zieger, Anwalt des ehemaligen Staatsanwalts Ekkehard Kaul, faßte noch einmal zusammen, was aus seiner Sicht allein eine Verurteilung seines Mandanten begründen könnte. „Die Frage ist nicht, ob das DDR-System gut oder schlecht war. Die Frage ist, ob das Recht dieses mangelhaften Systems der DDR gebeugt wurde oder nicht. Dafür müssen wir uns auf das geschriebene Recht der DDR und dessen Auslegung einlassen.“

Wie auch immer die BGH-Richter urteilen werden; Einigkeit scheint darüber zu herrschen, daß Richter und Staatsanwälte prinzipiell strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können, auch wenn sie in ihrem Staat für dieses Handeln niemals bestraft worden wären. Der Satz des NS-Marinerichters und späteren CDU-Ministerpräsidenten Filbinger: „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein“, soll niemals wieder zur Exkulpation der Justiz dienen können. Ob die DDR aber mit dem Nationalsozialismus vergleichbar ist oder nicht, auch damit müßten sich redliche BGH-Richter in ihrem Urteil, das am Freitag verkündet werden soll, auseinandersetzen. Julia Albrecht

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