Schirm & Chiffre
: Einbürgerung nach 24 Stunden

■ Dagegen ist Berlin Entwicklungsgebiet: Amsterdams „Digitale Stad“, von Moabit aus betrachtet

„Ga naar binnen als gast?“ Eine Frage, die wir verneinen können – mein belgischer Freund Remi ist bereits Anwohner der Digitalen Stadt (http:// www.dds.nl) in Amsterdam. Holland ist weit, wir sitzen im dritten Stock einer Moabiter Altbauwohnung, aber via Internet schmelzen Entfernungen schließlich auf die Distanz zwischen zwei Mausclicks.

„De Digitale Stad“, eine Schwester der Internationalen Stadt (http://www.gvm.de) in Berlin, ist der Simulation einer lebenden Stadt schon nähergekommen als letztere. Noch vor wenigen Jahren wurden ihre Architekten im holländischen Verfassungsschutzbericht als gefährliche Hacker und Anarchisten porträtiert.

Inzwischen wird das Projekt Digitale Stadt im Wirtschaftsministerium aber als ökonomischer Faktor betrachtet, die Arbeit der gleichnamigen Stiftung überall gutgeheißen. In Berlin dagegen hat noch nicht einmal der Datenschutzbeauftragte eine E-mail- Adresse.

Die animierende Geste der Hand auf der Startseite der Digitalen Stadt erinnert an die Hexe, die Hänsel und Gretel ins Knusperhäuschen lockt. Wir gehen als „naar binnen als bewoner“. Remi wohnt wie gesagt bereits hier: Er hatte sich angemeldet, war nach 24 Stunden registrierter Einwohner und hat damit Zugang zu allen Plätzen, Häusern und Cafés. Vor uns der „Plattegrond“, der Grundriß der Stadt. Dort befindet sich eine unübersehbare Zahl von „Pleins“ (Plätzen), die als Waben auf dem Plan angeordnet sind.

Wer sich bereits besser in der Stadt auskennt, kann sich von hier aus schnell in die gewünschte Ebene bewegen. Für Fremde steht eine alphabetische Liste aller Plätze zur Verfügung, darunter der „Politieke“ und der „Ondernemers Plein“.

In der Politikabteilung findet sich zum Beispiel die Homepage der Anne-Frank-Stiftung, die Argumentationshilfe gegenüber rassistischen Äußerungen im Alltag gibt. Auf dem Unternehmer- Platz gibt es Stellengesuche, die vom Chirurgen bis zur Politologin ein breites Spektrum abdecken. „De Digitale Advocaat“ hält hier Gratissprechstunden ab. Wer juristischen Beistand sucht, kann seine Frage per E-mail an den Rechtsanwalt schicken, schnelle Bearbeitung wird garantiert.

Amsterdamer können via virtueller Stadt E-mails an die reale Stadtverwaltung und die Ratsfraktionen schicken, des weiteren steht die Datenbank des Parlamentarischen Informationscenters zur freien Verfügung.

Um möglichst vielen Bürgern den Zugang zu politischen Institutionen zu ermöglichen, gehört zum Konzept der Digitalen Stadt die Installation von Public Terminals in öffentlichen Räumen. Auch auf dem „Nieuws Plein“ gilt: Freie Information für alle! Hier kann der niederländische Teletext – uncodiert und kostenlos – abgerufen werden.

Auf dem Plein findet sich auch das Regelwerk der Stadt, das den einzelnen für seine Äußerungen verantwortlich macht, wenn er sich in öffentlichen Diskussionsforen befindet. Die im Internet entwickelte Netiquette hat auch hier ihre Gültigkeit, und die Nutzer werden zur freiwilligen Selbstkontrolle aufgerufen.

Als einzige und letzte Disziplinarmaßnahme behält sich die Digitale Stadt vor, einzelnen den Zugang zu verweigern. Um dieser Entscheidung ihre Willkür zu nehmen, steht dem Ausgesperrten aber das Recht zu, Widerspruch einzulegen. Dann wird sein Fall von einer Kommission beraten.

„De Digitale Stad“ ist kein weiterer elektronischer Spielplatz, der als Entertainmentoberfläche vor allem dem Verkauf von Waren dient, sondern ein ernsthaftes Experiment, inwieweit demokratische Öffentlichkeit innerhalb elektronischer Netze geschaffen werden kann.

In der allgemeinen Euphorie über Online-Dienste wird oft vergessen, daß die Anbieter von Diskussionsforen keine demokratischen Institutionen, und User hier keine Bürger, sondern Kunden sind. Nutzer eines kommerziellen Dienstes können als Querulanten jederzeit ausgesperrt werden. Der System-Operator als Diktator des 21. Jahrhunderts.

Und wer würde dann auf die Idee kommen, von Bertelsmann oder Microsoft seine Rechte einfordern zu wollen? Ulrich Gutmair