Anders gekommen, als viele argwöhnten

■ Serie "Ortswechsel" (letzter Teil): Entgegen den Befürchtungen, die Vereinigung beider Stadthälften werde zu Verdrängung und Mietsteigerungen führen, hat beharrlicher Protest das Schlimmste verhindern

Mietenexplosion, Mietervertreibung, Bodenspekulation; das waren die Schlagworte, in denen sich die Ängste der Mieter und Nutzer in Ostdeutschland nach der Vereinigung ausdrückten. Hat das freie Spiel der Marktkräfte überhaupt stattgefunden, hat es die befürchteten Auswirkungen gegeben? Zunächst sah es so aus. Noch Anfang 1991 war es erklärtes Ziel des SPD-Bausenators Nagel, die Mieten im Osten von heute auf morgen auf Westberliner Niveau ansteigen zu lassen. Dieser wohnungspolitisch unverantwortliche Crashkurs wurde aber selbst von der CDU/FDP-Bundesregierung nicht mitgemacht. Doch auch deren Planung, wenn sie Wirklichkeit geworden wäre, hätte für viele das soziale Aus bedeutet. Massenhafte Proteste der Mieter erreichten, daß die Mietpreisbindung bis Mitte 1995 fortgeschrieben wurde.

Jetzt gilt das Mietenüberleitungsgesetz (MÜG), was auch nur begrenzte Mieterhöhungen zuläßt. Mit einer Besonderheit: Auch bei Wiedervermietung gibt es eine Kappungsgrenze von 15 Prozent auf die Vormiete, und die Modernisierungsmieterhöhung ist auf 3 DM/qm begrenzt. Dies ist einmalig und stellt eine Errungenschaft dar, die es für ein gesamtdeutsches Mietrecht zu erhalten gilt.

Doch auch diese, den freien Markt einschränkenden Gesetze und Verordnungen haben drastische Mieterhöhungen gebracht. Es war allen Beteiligten, auch den Mietern klar, daß Mieterhöhungen unumgänglich waren. Zugleich war aber Konsens, daß daraus entstehende übermäßige Belastungen durch ein entsprechendes Wohngeld aufzufangen waren. Im großen und ganzen sind beide Ziele erreicht worden, allerdings, und das gilt für Ost und West gleichermaßen: kleine Haushalte mit geringem Einkommen haben trotz Wohngeld eine übermäßige Mietbelastung, die teilweise bis zu 50 Prozent des verfügbaren Einkommens geht. Hier ist akuter Handlungsbedarf.

Auch die Nutzer haben durch ständigen wirkungsvollen Protest viel erreichen können. Ihnen ist ein gesetzliches Ankaufsrecht zum halben Verkehrswert zugestanden. Auch Datschenbesitzer können ihre Grundstücke noch langfristig nutzen. Also: Mieter wie Nutzer haben durch beharrlichen Kampf das Schlimmste verhindern können. Hartmann Vetter

Hauptgeschäftsführer des Berliner Mietervereins e.V.

Angesichts steigender Mieten und der stetig wachsenden Zahl privater Hauseigentümer befürchteten Ostberliner Kiezaktivisten und Lokalpolitiker 1991, eine große Zahl ihrer Mitbürger werde in absehbarer Zeit „draußen auf der grünen Wiese zelten“ müssen. Viele sahen ihre Kieze bald in den Händen reicher Westdeutscher. Nur – es ist nicht so eingetreten. Fünf Jahre danach ist manches anders gekommen ist, als viele argwöhnten. Die befürchtete Vertreibung von Bewohnern durch rabiate Entmietung blieb auf Einzelfälle beschränkt, die jedesmal Widerstand hervorriefen. Auch die Sanierungstätigkeit hat in den Ostberliner Bezirken längst nicht den Stand der späten achtziger Jahre erreicht. Hinzu kommt, daß sich private Hauseigentümer oft mit dem Herrichten der Fassade zufriedengaben, so daß der Wohnraum bezahlbar blieb.

Gravierendere Veränderungen haben sich jedoch im öffentlichen Raum vollzogen. Die Lebensqualität in allen Ostberliner Innenstadtquartieren ist gesunken. Die für eine Kiezstruktur so wichtigen kleinen Ladengeschäfte mußten nur allzuoft Bankfilialen weichen. An Brennpunkten wie der Oranienburger Straße in Mitte oder dem Wasserturm im Prenzlauer Berg entstand eine „Erlebnisgastronomie“, die einzig dazu dient, westdeutschen Besuchern der ostdeutschen Wildnis auch noch das richtige „Flair“ zu vermitteln.

Eine solcherart künstlich gepuschte „Szene“ macht die Einwohner zu Fremden im eigenen Stadtbezirk. Andernorts, etwa in Friedrichshain, entstehen in Baulücken Neubauten, die auf die Umgebung wie falsch gelandete UFOs wirken, und deren hoher Gewerberaumanteil auf absehbare Zeit leerstehen wird. Statt der versprochenen Belebung tritt so eher Grabesstille ein.

Für Beschwichtigungen besteht also kein Anlaß. Für die Mehrzahl der Ostberliner Wohnungen steht der große Modernisierungsschub nämlich erst noch bevor. Jeder, der unter Umstrukturierung einen schnellen, gewaltsamen Veränderungs-, vor allem aber Verdrängungsprozeß verstanden hatte, sieht sich getäuscht. Was wir erleben, ist die langsame, mitunter sogar behutsame Zurichtung der Ostberliner Innenstadt nach westdeutschen Erwartungen. Da ist in Zukunft sicherlich noch so manche Überraschung drin. Wolfram Kempe

Schriftsteller, nach der Wende Redakteur der Zeitschrift der Bürgerbewegung „die Andere“, 1990 Mitbesetzer der Stasi-Zentrale.