Stahmer kommt von unten

Was der SPD-Kandidatin bei Großveranstaltungen fehlt, strahlt sie beim Gespräch mit Bürgern und Lobbyisten aus: Selbstbewußtsein und Entschlossenheit  ■ Von Dirk Wildt

Die Worte der Frau, die Regierende Bürgermeisterin von Berlin werden will, wirken auf Parteitagen und Pressekonferenzen kraftlos. Wenn Ingrid Stahmer „bessere Politik“ fordert oder „Perspektiven für Berlin“ entwickelt, gelingt es ihr kaum, diese Floskeln mit Inhalt zu füllen. Wie zu ihrer Entschuldigung sagt sie, daß sie keine Parolen mag, und glaubt, deshalb vage und unkonkret bleiben zu müssen.

Doch als die Spitzenkandidatin der SPD an diesem Montag Spandau besucht, wirkt sie wie ausgewechselt. Ob die 52jährige mit Rentnern auf einem Wochenmarkt, mit Busfahrern oder Geschäftsleuten spricht – immer geht die Sozial- und Jugendsenatorin selbstbewußt auf die Leute zu, hört sich deren Sorgen an und ist selbst dann um keine Antworten verlegen, wenn die Fragen einmal nichts mit Sozialpolitik zu tun haben.

Ihr Besuch beginnt mit einem Frühstück mit Geschäftsleuten. Der Chef einer Privatklinik beschwert sich bei der Spitzenkandidatin, weil die Herzchirurgie in Berlin vernachlässigt werde. „Komisch, das sagt mir der Gesundheitssenator immer ganz anders“, antwortet Stahmer abweisend und würgt das Thema mit dem Hinweis auf die Zeit ab.

Als ein Gewerbevertreter berichtet, in diesem Jahr hätten in der Spandauer Altstadt sechs Läden geschlossen, weil neuerdings Kunden ihre Autos nicht mehr kostenlos abstellen dürfen, glaubt Stahmer das nicht: „Sie sind ganz sicher, daß Parkgebühren der einzige Grund sind?“ Die Senatorin weiß, daß wenige Kilometer entfernt in Brandenburg ein neues Gewerbezentrum Kunden abzieht. Minuten später auf einem Markt in Hakenfelde hat es die Spitzenkandidatin gar nicht nötig, auf jemanden zuzugehen. Die Leute – immer Frauen – sprechen sie von ganz allein an. „Kann ich Sie zum Kaffee einladen?“ fragt eine alte Frau. Eine Gemüsehändlerin in blauer Schürze mit Bananensignet kommt hinter Tomaten und Lauch hervor. Frau Stahmer solle mal etwas dafür unternehmen, daß die Händler auf dem Markt Schrittgeschwindigkeit fahren. Ein Spandauer Genosse macht sich Notizen.

Vom elften Stock eines Getreidesilos von der Havelinsel Eiswerder blickt Stahmer herab auf Gewässer, Bäume, Schornsteine und Kräne. Vom Geschäftsführer des Entwicklungsträgers Wasserstadt Oberhavel läßt sie sich beschreiben, wo 12.000 Wohnungen und 22.000 Arbeitsplätze enstehen sollen. Natürlich ist auch dieser Chef von Geldnöten geplagt. Der Senat habe das Projekt „gestreckt“, doch Zeitverzögerungen kosteten das Land Berlin mehr, als wenn nach Plan gebaut würde, beklagt sich der Mann. Auch hierüber weiß Stahmer Bescheid. Von der Prioritätenliste für Großbauvorhaben, die der Finanzsenator mit den Stadtentwicklungs- und Bausenatoren erarbeitet hat, hält Stahmer nichts: „Die haben sich doch eher in dekorativer Form mit dem Geldmangel auseinandergesetzt.“ Welche Großbauvorhaben tatsächlich bezahlt werden können, sei eine der ersten Fragen, die die neue Landesregierung klären müsse. Die Wasserstadt findet Stahmer zwar wichtig, aber Versprechen macht sie dem Geschäftsführer nicht.

Nur einmal macht die Kandidatin eine schlechte Figur. Als sie die 3. Luftwaffendivision in Gatow besucht, läßt sie eine halbe Stunde einen Militär reden und reden und reden. Alle Welt interessiert sich derzeit für Chiracs Atombombentests und die deutschen Kampfeinsätze in Bosnien, doch Stahmer läßt sich lieber erläutern, wo das Luftfahrtmuseum vergrößert, eine Antenne versetzt oder ein Gebäude renoviert wird.

Schnell ist Stahmer aber wieder diejenige, die agiert. Auf einem Omnibus-Betriebsbahnhof spricht sie die Sprache der BVG-Mitarbeiter. Sie weiß was in einem Tarifüberleitungsvertrag steht. Die Angst vieler Beschäftigter vor „betriebsbedingten Kündigungen“ teilt sie deshalb nicht. „Der Senat hat der BVG zur Bedingung gemacht, daß es diese Kündigungen nicht geben darf.“ Die Beschäftigten glauben Stahmer nicht. Sie will sich nun mit ÖTV-Chef Kurt Lange beraten und entschlossen Verkehrssenator Herwig Haase (CDU) gegenübertreten.

An diesem Montag ist Stahmer vollauf mit sich zufrieden. Von heftiger Kritik mancher Genossen an ihren blaßen Auftritten vor großem Publikum läßt sie sich nicht verunsichern. Ihre letzte große Schlappe mit Bausenator Nagel, der entgegen ihrer Vorgabe doch für den Schiller-Theater-Vertrag mit Schwenkow stimmte, nimmt sie ebenfalls gelassen. Ein abgestimmtes Verhalten unter SPD-Senatoren müsse bei strittigen Fragen länger vorbereitet werden.

Und daß Walter Momper sie auf dem Programm zu seinen rot-grünen Gesprächen nur als Sozialsenatorin und nicht als Herausforderin des Regierenden Bürgermeisters Diepgen ankündigt, ist für Stahmer nur eine „kleine Gemeinheit“. Die Frau, die Wahlkampf von ganz unten macht, lacht: „Denn trotzdem bin ich die Spitzenkandidatin.“