Prädikat „Volksbildend“

Deutsch-russische Osmose im Filmprogramm der „Berlin–Moskau“-Ausstellung  ■ Von Anke Westphal

Am 26. Juni 1929 sollte der sowjetische Regisseur Dsiga Wertow während der Film- und Fotoausstellung des Werkbunds in Stuttgart mit einem Vortrag auftreten. Die Filmpioniere Eisenstein, Dowschenko und Pudowkin waren der – auch an sie ergangenen – Einladung nicht gefolgt, um Wertow den Vortritt zu lassen. Dsiga Wertow hatte mit Vorläufern der Montagetechnik gearbeitet, lange bevor an Eisensteins „Potemkin“ zu denken war und den legendären Kinderwagen, der die Treppe am Hafen von Odessa hinunterkippte.

Wertow hatte ein Informationssystem aufgebaut, das ihn in die Lage setzte, schneller als die Polizei an den Orten aktuellen Geschehens einzutreffen. „Er nahm Zehntausende von Metern des Sowjet-Alltags auf, ohne sich zunächst darum zu kümmern, wie all diese an sich zusammenhangslosen Ereignisse in einen Film gebracht werden konnten“, schrieb der den Dadaisten nahestehende Maler und Filmavantgardist Hans Richter 1967. Beim Anschauen fand Wertow dann, daß manche Szenen „klangen“, bestimmte musikalische Bewegungsverwandtschaften aufwiesen, obwohl sie ursprünglich nichts miteinander zu tun hatten. Genau die klebte Dsiga Wertow zusammen. Nachdem Lenin die Filme Wertows sah, soll er gesagt haben: „Von allen euren Künsten ist uns der Film die wichtigste.“

Dsiga Wertow sprach kaum deutsch. Die Stuttgarter Besucher seines Vortrags verstanden nur ein einziges Wort – „Kinoki“ (Kameralinse) – und fanden Wertows Film „Der Mann mit der Kamera“ eher langweilig. Trotzdem tobten sie vor Begeisterung, „als hätte Caruso gesungen“. Ihre Ovationen galten dem russischen Film an sich.

Hans Richter drehte 1929, bei „Alles dreht sich, alles bewegt sich“, selbst mit Wertow. Der russische Film war zwar populär in Deutschland, deutsche Filme kamen jedoch in ungleich größerer Zahl nach Sowjetrußland. Man lieh einander Schauspieler aus und warf sich gegenseitig Plagiatismus vor, wenn nebenan zufällig, aber verblüffend Ähnliches hervorgebracht wurde wie im Falle von Walter Ruttmanns „Berlin, Sinfonie einer Großstadt“ und Dsiga Wertows „Der Mann mit der Kamera“. Parallelwelten.

Einen Abglanz dieser vitalen Bewunderung soll eine viermonatige Retrospektive geben, die als Begleitprogramm zur Ausstellung „Berlin–Moskau“ läuft. Dort werden über 100 – darunter sehr seltene – Filme gezeigt und Seminare angeboten, die die Freunde der Deutschen Kinemathek ermöglicht haben. Die Retrospektive folgt thematischen Blöcken. Dabei dominiert aus naheliegenden Gründen mit „Stadtvisionen“ das Sujet der Metropole, führt aber erfreulich über die geläufigen Klassiker hinaus. Natürlich gehören „Berlin, Sinfonie einer Großstadt“, „Menschen am Sonntag“ etc. pp. zum Repertoire des Unternehmens, aber eben auch Filme wie der 1929 gedrehte „Markt am Wittenbergplatz“ (Wilfried Basses Studie über die Dinge – Fruchtkörbe, Händlerstände, Käufer, Verkäufer, fast somnambul), und „Vorwärts Sowjet“, Dsiga Wertows Stadtbild über die „Erneuerung der Hauptstadt“ Moskau (1926).

Ergänzt wird der Metropolenaspekt durch Filme zum „totalitären Kino“ (Steinhoffs „Ohm Krüger“), über Russen im deutschen Film („Rasputin“ mit Conrad Veidt), Deutsche im russischen Film („Die Familie Oppenheim“, Grigori Roschal) und Filme, die ihr Scherflein zum Kalten Krieg beitrugen. Der Katalog zur Retrospektive sollte unbedingt und schnell erworben werden – es gibt nur 1.800 Exemplare; für beschämend unerhebliche 20 Mark glänzt er mit kurzweiligen Informationen und Geschichten – so gingen etwa 3.700 „Beutefilme“ nach der Kapitulation in die Sowjetunion, außerdem 2.500 Kurzfilme, darunter „einige hundert amerikanische Trickfilme in Farbe“.

Die Filmkritikerin und Herausgeberin Oksana Bulgakowa gab ihm den umständlichen, aber äußerst beziehungsreichen Titel „Die ungewöhnlichen Abenteuer des Dr. Mabuse im Land der Bolschewiki“. 1924 drehte Nikolai Assejew „Die ungewöhnlichen Abenteuer des Mr. West (sic!!!) im Land der Bolschewiki“, eine pädagogische Komödie, in der ein amerikanischer Millionär, der die Russen natürlich für eiserne Menschenfresser hält, durch hilfreiche Kommissare eines Besseren belehrt wird. Die Komödie verdiente in Rußland überhaupt das Prädikat „Volksbildend“.

Das Genre war auch auf der Rezeptionsebene politisch besetzt. So wurden während des Ersten Weltkriegs in Moskau deutsche Filme mit Henny Porten zwar gezeigt, aber als dänische Filme deklariert. In solchen Fällen, wo der Betrug entdeckt wurde, demolierte das aufgebrachte Publikum nicht selten das Kino.

Marika Rökk und Zarah Leander wiederum waren die Lieblingsschauspielerinnen der Sieger des Zweiten Weltkriegs. UFA-Produktionen wie „Die Frau meiner Träume“ halfen dem sowjetischen Filmverleih, „den Plan zu erfüllen und Prämien einzuheimsen“, schrieb Jossif Manewitsch, der im Juli 1945 das Reichsfilmarchiv nach Moskau brachte.

Zurück zu „Dr. Mabuse“: Er gelangte ab 1922 nach Rußland und gehörte dort bald zur Alltagskultur. Wenig später wurde 1924 bei der Aktiengesellschaft Sowkino ein spezielles Redaktionskollegium gebildet, das für die „Anpassung“ ausländischer Filme an den sowjetischen Verleih zuständig war. Dort stufte man Murnaus „Der letzte Mann“ als Kassenschlager ein, was einer „Empfehlung für das Arbeiterpublikum“ gleichkam. Der erste „Russenfilm“ erreichte Deutschland 1923. „Polikuschka“, Alexander Sanins Verfilmung einer Erzählung von Leonid Tolstoi, riß Alfred Kerr zu tiefen Worten hin: „Es gibt Großes, wenn Schauspieler Heilige sind.“ Die russische Filmwissenschaftlerin Maja Turowska, eine der Autorinnen des Katalogs, hält den Film in verändertem Kontext für eine besondere Kunst. „Der Film ist neben MTV heute so etwas wie eine Oper, etwas Klassisches, Altes“, sagte sie zur Eröffnung der Retrospektive.

Die Filme laufen im Berliner Martin-Gropius-Bau, einige werden im Kino „Arsenal“ wiederholt.

Der Katalog „Die ungewöhnlichen Abenteuer des Dr. Mabuse im Land der Bolschewiki“, hg. von Oksana Bulgakowa / Freunde der Deutschen Kinemathek, 301 Seiten, kostet 20 DM.