Niemand kennt die al-Faran

In Kaschmir sind die Entführer von fünf Touristen völlig unbekannt. Kaschmiris vermuten, daß Indien hinter der Verschleppung steckt. Massaker sind in der Provinz an der Tagesordnung  ■ Aus Srinagar Christian Kreuzer

Der Regen hat aufgehört. Röhrend holpert die Motorrikscha durch die matschigen Gassen. Seit zwei Minuten ist weit und breit kein Sandsackbunker mehr zu sehen. Nur 15 schwerbewaffnete indische Soldaten kommen uns entgegen. Trotz ihrer kugelsicheren Westen und automatischen Waffen wirken sie nervös und angespannt. Die Kaschmiris dagegen, unter denen sie sich als Fremde bewegen, gehen scheinbar unbeteiligt ihren Geschäften nach.

Drei Ecken weiter verlassen wir die Rikscha. Wir sind in Kanya, dem Herzen der Altstadt von Srinagar. Unüberschaubar ist hier der Dschungel der Gassen und Schleichwege. Die Herren dieser Gegend haben ihr Revier markiert. „HM“ haben sie mit grüner Farbe an jede Hauswand gepinselt. Es sind die Initialen der islamistischen „Hisb-ul-Mudschaheddin“.

Ein junger Mann bedeutet uns, ihm zu folgen. Nach zehn Minuten machen wir vor einer kleinen Brücke Halt. Sie führt über ein Gewässer in das Gebiet der „Mohallas“. Das sind kleine Siedlungen. Sie liegen auf Inseln und Halbinseln in der stark bewaldeten Uferregion des Dalsees. Manche sind nur mit dem Boot zu erreichen.

Unser Führer ruft etwas hinüber. Eine Stimme antwortet aus dem Dickicht. Dann erscheint ein bärtiger Mann. Er trägt eine AK 47 und ein Brusthalfter voller Ersatzmagazine. Wir überqueren die Brücke und werden von dem Guerillero durch eine baumbestandene Allee geführt. Auf unserem Weg zum Local Commander dieser Einheit kommen noch mehr Bewaffnete aus ihren Verstecken hervor und schließen sich uns an.

Der Commander, ein Mann von 20 Jahren, hat sein Quartier in einem großen Gehöft aufgeschlagen. Er trägt ein rotes Hemd, schwarze Jeans und Turnschuhe. Er wirkt unsicher. Die meisten Fragen beantwortet er mit einem Schulterzucken. Wie es denn in Kaschmir sei, wenn die Inder tatsächlich abzögen.

„Wie im Paradies!“

Nicht eher wie in Afghanistan, wo schon vor dem Abzug der Sowjets ein blutiger Bürgerkrieg unter den Mudschaheddin-Gruppen ausbrach?

„Nein, es wird sein wie im Paradies.“

Wie ist es im Paradies?

„Das weiß nur Gott.“

Die Autorität in der Gruppe scheint von einem etwa 30jährigen Mann auszugehen. Er sagt, er komme aus dem pakistanischen Azad-Kaschmir. Er habe die Truppe nach ihrer Ausbildung hierher zurückgeführt. Auf die Frage, wo die Menschen seien, die hier leben, antwortet er: „Sie verstecken sich. Die Inder können hier auftauchen, und dann gibt es eine Riesenschießerei.“

Was wissen diese Kämpfer von der al-Faran? Sie verziehen ihre Gesichter. „Al-Faran“, schnaubt einer, „das haben sich Inder ausgedacht, um die Unabhängigkeitsbewegung in Verruf zu bringen. Niemand in Kaschmir hat je von al-Faran gehört, bis die Touristen entführt wurden.“ Keiner habe je mit ihnen Kontakt gehabt, außer den indischen Behörden. „Dabei“, sagt er, „sind alle auf der Suche nach ihnen, auch wir.“ Die Kaschmiris, so versichert der Commander, würden Gäste ihres Landes niemals entführen oder töten.

Das Hauptquartier der indischen Armee am Batwara-Gate ist eine Stadt für sich. Der Offizier, der die Verbindung zur Presse aufrechterhalten soll, kramt eine Kopie des Bekennerschreibens der Entführer hervor. „Das ist Urdu, eine Sprache, die vorwiegend in Pakistan und Afghanistan gesprochen wird, und nicht die Sprache der Kaschmiris“, sagt er. Die Entführer seien bestimmt afghanische Terroristen, von Pakistan angestiftet. Warum sollte die indische Regierung harmlose Touristen entführen lassen? „Indien ist die größte Demokratie der Welt.“

Am Partap-Park in der Innenstadt patrouillieren Dutzende Soldaten. Die meisten sind Angehörige der gefürchteten indischen „Border Security Forces“, einer paramilitärischen Einheit von Grenzschützern. Vor den Geschäften hocken mißmutige alte Männer über blubbernden Wasserpfeifen. Kaum einer will sich auf ein Gespräch einlassen. Al-Faran? Der Teufel soll sie holen, wer sie auch sein mögen. An einem Ort, an dem selten eine Aussage mit einer anderen übereinstimmt, herrscht in einem Punkt Einigkeit: Vor der Entführung der Touristen hatte noch niemand etwas von al-Faran gehört. Alle nationalen Parteien und Gruppierungen, ob kriegerisch oder politisch ambitioniert, sind bestens bekannt. Ihre Führer und Unterführer, ihre Kampftruppen können die meisten im Schlaf herunterbeten. Al-Faran kennt keiner.

Am „Boulevard“ warten die schwimmenden Händler vergeblich auf Touristen. Von einer halben Million Besucher jährlich vor dem Bürgerkrieg kamen im letzten Jahr noch zehntausend. Die Anwesenheit von indischen Soldaten und deren Übergriffe haben das Klima weiter verschlechtert. Und jetzt diese Entführung. Bei den Händlern und Reiseunternehmern am Dalsee macht sich Verzweiflung breit. Wenn wenigstens die anderen vier Geiseln gesund zurückkehrten!

Mit grimmiger Zufriedenheit erzählen die Bootsfahrer ein Gerücht. Es betrifft die Harkat-ul- Ansar, eine Kampfgruppe ähnlich der Hisb-ul-Mudschaheddin und zur Zeit mit ihr verbündet. Das Gerücht besagt, die Harkat-ul-Ansar hätten einen Verbindungsmann der al-Faran geschnappt und würden ihn „verhören“. Die würden es schon aus ihm herausprügeln, kündigen sie unverblümt an, daß in Wahrheit die indische Regierung hinter der Entführung stecke.

Schabir Ahmad Schah, 41 Jahre, ist Führer der „People's League“, langjähriger Häftling in indischen Gefängnissen, Pazifist und politischer Vordenker seines Landes. Bei Tee und Kuchen erzählt er, wie wichtig es sei, allen Kaschmiris das Vertrauen in die politische Führung zurückgegeben. „Auch den hinduistischen Pandits und den Buddhisten in Ladakh“, betont er. Er hat Mitte Juli den Generalstreik organisiert, mit dem Kaschmir gegen die Entführung protestierte. „Ich bin im ganzen Land herumgefahren und habe versucht herauszufinden, wer dahintersteckt. Alle haben mir ihr Wort gegeben, daß sie nichts mit der Sache zu tun haben.“ Dann stellt er die Fragen, die wir immer wieder hörten: Die al- Faran habe mit niemandem Kontakt. Sie sind geächtet. Wer versorgt sie da oben mit Essen und Trinken? Warum stehen nur die indischen Behörden mit ihnen in Kontakt? „Nur die Inder“, sagt Schabir Schah, „haben einen Nutzen von dieser Entführung. Jetzt können sie allen erzählen, wie wichtig die Anwesenheit ihrer riesigen Streitmacht in Kaschmir ist.“

Ein paar Tage später fahren wir zum zweiten Mal durch das Morhalla-Viertel, in dem wir die Guerillagruppe getroffen hatten. Diesmal drängen sich Hunderte verstörter Menschen um uns, schreien, weinen. Vor einer halben Stunde hat eine Einheit der Border-Security-Forces das Viertel verwüstet. Die Mudschaheddin- Gruppe hat am Vortag einen der indischen Paramalitärs aus dem Hinterhalt erschossen. Zu Strafe haben die indischen Paramilitärs ein Viertel von rund 50 Häusern zerstört. Keine Fensterscheibe ist mehr heil. In den Häusern ist jedes einzelne Zimmer verwüstet. In manchen Häusern sind die Zimmerdecken herausgerissen. Fernsehgeräte und Radiorekorder liegen zerstört herum. Gold, Bargeld und alles, was von Wert war, haben sie mitgenommen.

An unseren Ärmeln werden wir in ein Boot gezerrt und zu einer kleinen Insel im Buschwald gerudert. Auch hier sind die indischen Grenzschützer gewesen. Im Innenhof eines Gehöfts sitzen etwa zwanzig Frauen klagend im Kreis. Als wir näher kommen, sehen wir in ihrer Mitte die Leiche eines jungen Mannes. Ein Mann bahnt sich einen Weg durch die Frauen und reißt dem Toten das Hemd auf: Eine Kugel hat ihm das Schlüsselbein zerfetzt, eine zweite hat ihn ins Herz getroffen. Er war taubstumm. Deshalb hat er die Schüsse nicht gehört und ist nicht mit den anderen geflohen. Als wir uns zum Gehen wenden, sehe ich plötzlich eine AK 47 am Arm eines jungen Mannes baumeln. Die Mudschaheddin-Gruppe ist zurückgekehrt. Wo sie gewesen sind, wollen wir wissen. Schulterzucken – sie waren gerade woanders. „Wir werden uns rächen!“ sagt der Mann mit dem Gewehr. Dann fragt er, ob wir nicht ein Gruppenfoto machen wollten. Er könne seine Einheit in fünf Minuten hier haben.

Auf der Polizeistation sehen wir die Leiche einer jungen Frau, die bei dem gleichem Überfall aus ebenfalls nicht ersichtlichem Grund erschossen wurde. Auf die Frage, was nun geschehen werde, heißt es, der zuständige Offizier sei gerade nicht da.

Als wir am nächsten Tag noch einmal in die Mohallas zurückkehren, sind die Häuser verriegelt, die Menschen fortgezogen. Ein paar Enten und Gänse watscheln herum. In einem Haus finden wir zwei alte Männer. Er sei zurückgeblieben, um auf sein Heim aufzupassen, sagt der eine, dann muß er weinen. Als er seine Sprache wiederfindet, spricht er aus, was alle denken: „Wenn einem von euch Westlern etwas zustößt, wird sofort alles getan, um die Schuldigen zu finden. Und wir? Wir sind euch weniger wert als die Hunde auf der Straße.“