Neugeborene sahen aus „wie Eingeweide eines Tieres“

■ Vom Mythos Südsee und „bösen, ehrgeizigen Menschen“: Auch das Völkerkundemuseum beschäftigt sich mit Filmen und Sonder-Texttafeln in seiner ständigen Ausstellung mit den Atomtests auf Moruroa

Im Jahr 1768 erreichte der französische Naturforscher Louis A. de Bougainville die Südseeinsel Tahiti. „Ich glaubte mich in den Garten Eden versetzt...“, schwärmte er später in seinem Reisebericht, der in Europa euphorisch aufgenommen wurde. Eine allgemeine Sehnsucht nach den paradiesischen Inseln der Südsee setzte ein, wie sie dann beispielsweise der Maler Paul Gauguin in seinen Bildern erträumte. Der Mythos Südsee war geboren.

Noch in unserem Jahrhundert wurde die Südsee in Abenteuerfilmen wie „Meuterei auf der Bounty“ oder wie im superkitschigen Menschwerdungsepos „Die blaue Lagune“ romantisch verklärt. Und dem mobil gewordenen Massentourismus gelten die langen, palmengesäumten Sandstrände als eines der letzten Paradiese auf Erden.

Dieser Tage hört man ganz andere Geschichten aus dem Stillen Ozean. Die Schlagzeilen zu den französischen Atomwaffentests scheinen so ganz und gar nicht mehr zu dem schönen Traum von der heilen Inselwelt zu passen. Oder etwa doch? Das Museum für Völkerkunde in Dahlem geht derzeit mit einer in seine Südsee-Abteilung integrierten Sonderausstellung zu den Atomtests der Frage nach: Könnte es sein, daß zwischen dem Wunschtraum vom Paradies in der Südsee und der Vorstellung, dort sei gewissermaßen „Draußen vor der Tür“, wo auch eine Atombombe niemanden stört, ein heimlicher Zusammenhang besteht?

Für die Literaten des 18. Jahrhunderts waren die fernen Inseln eine willkommene Projektionsfläche für ihr ideales Menschenbild. Von Texttafeln ist zu erfahren, daß Bougainville den Insulanern wünschte, „die Natur möge ihnen die Gegenstände vorbehalten [...], die die Begierde der Europäer wecken. Sie brauchen nicht mehr als die Früchte, die die Natur hier im Überfluß hervorbringt, ohne daß es des Ackerbaus bedarf.“

Arm und genügsam sollten sie bleiben, die „Eingeborenen“. Diderot prophezeite den Tahitianern, daß sie eines Tages „ebenso verdorben, niedrig und unglücklich“ wie die Europäer werden würden – und appellierte: „Weint Tahitianer, weint ruhig – aber weint nicht über die Abfahrt dieser bösen, ehrgeizigen Menschen.“ Daß die Europäer dann tatsächlich wiederkamen, dokumentieren andere Tafeln, die nüchtern die Chronik der Kolonialisierung des Südseegebiets vom 16. bis zum 19. Jahrhundert und die in den 40er Jahren unseres Jahrhunderts einsetzenden Atombombenversuche auflisten.

Den Widerspruch zwischen dem literarisch formulierten Mitgefühl und der faktischen Ignoranz der Kolonialherren thematisiert besonders eindrucksvoll der australische Dokumentarfilm „Halbwertszeit“ von 1981, der im die Sonderausstellung begleitenden Filmprogramm mehrmals täglich zu sehen ist (9.30, 12 und 14.30 Uhr). Hier kommen die Strahlenopfer der 1954 auf dem Bikini- Atoll gezündeten amerikanischen Atombombe „Bravo“ zu Wort.

Obwohl den Militärs seinerzeit bereits klar war, daß der Fallout der Bombe vom Wind auf das nur wenige Kilometer entfernte Atoll Rongelap getragen werden würde, ließen sie die Insel nicht evakuieren. Wie Schnee rieselte radioaktiver Niederschlag auf die Bewohner – und die Kinder auf Rongelap, die Schnee bisher nur von Bildern kannten, spielten damit. Noch Jahre später, erzählt eine ältere Frau, habe sie mehrere Fehlgeburten gehabt: Kreaturen, die aussahen wie Quallen, wie die „Eingeweide eines Tieres“.

Im Filmprogramm zu sehen sind außerdem „The Atomic Café“ (9.30, 12 und 14.30 Uhr), ein Film, der anhand von Werbefilmen der Atomindustrie und Lehrfilmen der US-Regierung die amerikanische Atom-Begeisterung der 40er und 50er Jahre satirisch vorführt, sowie ein weiterer Dokumentarfilm, der den Alltag einer traditionellen Fischerfamilie auf Kiribati schildert (11 und 13.30 Uhr).

Letzterer schlägt die Brücke zu den wertvollen Exponaten der ständigen Südsee-Ausstellung des Museums: zu den großen Originalbooten mit Auslegern zum Beispiel, mit denen die Polynesier sich die gesamte Inselwelt der Südsee erschlossen. Die Entscheidung des Museums, seine ethnographische Sammlung, die zu den größten in Europa zählt, mit den aktuellen politischen Daten der Atomtests zu konfrontieren, fordert den Besucher dazu auf, seine – wenn auch vielleicht im verborgenen – weiterblühenden Wunschvorstellungen von einer exotischen, heilen Südseewelt an der Bomben-Realität zu überprüfen.

Im Zeichen der Bombe kann so selbst ein Museum, das sich den Besuchern gemeinhin als sachkundig verwalteter Hort kunsthistorischer Schätze präsentiert, zu einem politischen Ort werden. Joachim Grunwald

Museum für Völkerkunde, Lansstraße 8, Dahlem, Di.–Fr. 9–17 Uhr, Sa./So. 10–17 Uhr