Der lange Weg zur neuen Schule

Im neuen Südafrika ist Rassentrennung an den Schulen verboten. Während weiße Schulen gute Erfahrungen mit der Integration machen, brodelt es auf der schwarzen Seite des äußerst ungleichen Schulwesens  ■ Aus Johannesburg Kordula Doerfler

Jeden Morgen kurz vor sechs macht sich Dora Mamizela auf ihren weiten Weg. Ein paar hundert Meter von ihrem Elternhaus entfernt besteigt sie ein Sammeltaxi. Für die Fahrt von Soweto in die Innenstadt von Johannesburg braucht sie eine Dreiviertelstunde, manchmal auch länger. Am zentralen Taxibahnhof muß Dora noch einmal umsteigen, um zur „Rand Girls High School“ im ehemals weißen Stadtteil Braamfontein am Rand der Johannesburger Innenstadt zu gelangen. Pünktlich um Viertel vor acht beginnt dort der Schultag mit einem gemeinsamen Gebet aller 300 Schülerinnen in der Aula.

Für die vierzehnjährige Dora beginnt der Unterricht jeden Tag mit der Burensprache Afrikaans. Zusammen mit 20 anderen schwarzen Schülerinnen, die fast alle aus Soweto kommen, muß sie mühsam die Sprache der ehemaligen Machthaber am Kap erlernen. „Wir legen Wert darauf, daß unsere Schülerinnen fließend Englisch und Afrikaans sprechen“, sagt Schuldirektorin Valerie Pretorius. „Das sind immer noch die Hauptverkehrssprachen in Südafrika, und es ist wichtig, daß sie beides können.“

Das Mädchengymnasium, das früher den Namen „Höhere Mädchenschule Helpmekaar“ (Helft einander) trug, ist eine der ältesten und traditionsreichsten burischen Schulen in Johannesburg. Noch zu Zeiten der letzten weißen Regierung unter Präsident Frederik de Klerk wurde sie, wie fast alle weißen Schulen, halbprivatisiert. Von da an war es erlaubt, schwarze Schüler aufzunehmen – unter der Bedingung, daß auch ihre Eltern die hohen Schulgebühren bezahlen konnten. So sollte verhindert werden, daß arme Schüler aus den schwarzen Townships in die exklusiven weißen Schulen strömten.

Seit Beginn diesen Jahres darf offiziell niemand mehr abgewiesen werden, bloß weil er die Schulgebühren nicht bezahlen kann. Rassentrennung in den Schulen existiert qua Gesetz nicht mehr. „Helpmekaar“, mittlerweile ganz entstaatlicht, pocht trotzdem darauf, daß die Gebühren entrichtet werden. Um soziale Ungleichheiten zu mildern, werden sie individuell erhoben. „Die schwarzen Schülerinnen müssen maximal 600 Rand (etwa 240 Mark) pro Jahr bezahlen“, sagt Schuldirektorin Pretorius, „und viele stottern das monatlich mit 50 Rand (20 Mark) ab.“ Aber es sei geradezu rührend, wie sehr die Eltern sich bemühen, das Geld zusammenzubekommen.

„Was die rassische Integration angeht, machen wir enorme Fortschritte“, behauptet Pretorius. Von den insgesamt 300 Schülerinnen sind 60 farbig oder schwarz. Derzeit, so die Direktorin, sei es noch nötig, die schwarzen Schülerinnen in einer separaten Klasse zu unterrichten. „Aber wir hoffen, daß wir das bald überwunden haben.“ Tatsächlich sind die Wissenslücken der schwarzen Schülerinnen groß, denn das Schulwesen für Schwarze zu Apartheid-Zeiten war miserabel. Ziel der Ideologie der Rassentrennung war es, die schwarzen „Stämme“ Südafrikas von der weißen Bevölkerung zu separieren und sie in „unabhängigen“ Staaten zwangsanzusiedeln. Dementsprechend gab es auch ein eigenes Bildungssystem für Schwarze, die sogenannte „Bantu Education“, die als eine Art Primitiverziehung angeblich deren Bedürfnissen angepaßt war. Die Folgen davon sind heute noch zu spüren: Nach der ersten landesweiten Studie über den Bildungsstand vom Mai diesen Jahres sind 80 Prozent aller Schwarzen nicht in der Lage, eine Zeitung zu lesen.

Jetzt steht Südafrika vor der schwierigen Aufgabe, diese Ungleichheiten zu überwinden und die insgesamt 19 verschiedenen Bildungsministerien aus der Apartheid-Zeit – darunter auch welche für Farbige und Inder – in ein neues föderales und demokratisches Schulwesen zu verwandeln. Auch mehr als ein Jahr nach dem Regierungswechsel ist diese Neustrukturierung aber noch längst nicht abgeschlossen.

Während die ehemals weißen Schulen überwiegend gute Erfahrungen mit der Integration machen, brodelt es in Südafrikas schwarzen Bildungseinrichtungen. Sie sind in der Regel ungleich viel schlechter ausgestattet und das zahlenmäßige Lehrer-Schüler- Verhältnis ist viel ungünstiger als in weißen Schulen. Außerdem sind schwarze Lehrer viel schlechter ausgebildet als ihre weißen Kollegen. Mehrfach kam es in den vergangenen Wochen in Schulen in Soweto zu Streiks: Die Lehrer streiken für bessere Gehälter, die Schüler für besseren Unterricht.

Verglichen mit anderen Provinzen steht die bevölkerungsreichste Provinz Gauteng, die den Ballungsraum um Johannesburg und Pretoria umfaßt, noch gut da. Wie eine Studie der „Urban Foundation“ ergab, ist die Provinz mit 48.000 Lehrern und über 2.000 Schulen überdurchscnittlich gut versorgt. „In Gauteng haben wir eher ein Verteilungsproblem“, sagt Jane Hoffmeyr, eine der Soziologinnen, die die Studie erstellt haben. So gibt es ein Überangebot von weißen Lehrern. Da viele von ihnen sich weigern, an schwarzen Schulen zu arbeiten, drohen ihnen jetzt die Behörden mit Zwangsversetzung, was für zusätzliche Unruhe sorgt.

Um die ungleiche Verteilung von schwarzen und weißen Lehrern in ganz Südafrika auszugleichen, zauberte der nationale Bildungsminister Sibusiso Bengu (ANC) im April einen originellen Vorschlag aus der Tasche: Er drohte damit, alle Lehrer im ganzen Land zu entlassen und dann neueinzustellen – aber dann möglicherweise an anderen Orten und anderen Schulen. Der Vorschlag löste einen Sturm der Entrüstung aus und verschwand wieder in der Versenkung.

Seit die Regierung im Juli eine kleine Gehaltserhöhung verkündete und die größte Lehrergewerkschaft dieses Angebot annahm, ist zwar die Lehrerschaft vorerst befriedet – ein großes Problem in Südafrikas Bildungswesen bleibt aber weiter bestehen: 85 Prozent des gesamten Bildungsetats werden für die Gehälter der Lehrer ausgegeben. Von den restlichen 15 Prozent läßt sich kaum das Nötigste finanzieren, wie etwa neue Lehrbücher.

Vor allem die Bücher, die sich mit der Geschichte Südafrikas befassen, taugen kaum für Mandelas Politik der Versöhnung. Selbst Hauptschüler bekommen meist noch das alte Geschichtsbild vorgesetzt: Weiße Siedler landen im 17. Jahrhundert am Kap und treffen dort auf blutrünstige Wilde, „Hottentotten“ und „Buschmänner“, die in jahrzehntelangen Kämpfen missioniert und „kultiviert“ werden. Mehr als 200 Jahre später stoßen sie auf ihrem „Großen Treck“ nach Norden auf die bösen „Bantustämme“, die aus Ostafrika in den Süden gewandert sind und nun den Buren ihr gelobtes Land streitig machen. All das führt zum gnadenlosen Abschlachten der Urbevölkerung im südlichen Afrika. Und das, zusammen mit dem burischen Selbstverständnis einer von Gott gewollten rassischen Überlegenheit der Weißen, führte zur Ideologie der Apartheid.

Erst in wenigen neuen Schulbüchern wird versucht, die Geschichte Südafrikas anders darzustellen. Das Buch „Looking into the Past“ etwa, für Kinder der 3. und 4. Klasse, erzählt in Bildergeschichten die Landung der Weißen am Kap aus der Perspektive der Ureinwohner. Bedrohliche Ungetüme landen an den Stränden, und heraus kommen merkwürdig blasse Gestalten, deren Körper von Kleidungsstücken bedeckt sind und deren Sprache niemand versteht. „Lauft weg, sie müssen gefährlich sein!“ ruft ein Hirte den anderen zu. Das Buch wird derzeit in einem Modellversuch in zehn Johannesburger Schulen getestet.