■ Annemarie Schimmels Schweigen und der Friedenspreis
: Untauglich als Bösewichtin

„Rettet die Weltkulturen!“ So nannte die Unesco 1993 ihren Bericht zur Lage der Weltkulturen, in dem sie eine neue Ethik globaler kultureller Entwicklung forderte. Der unbeachtet gebliebene Bericht predigt keinen unausweichlichen Krieg der Kulturen der Welt, sondern mehr interkulturellen Dialog, damit diese eine „neue Stufe des Verstehens ihrer selbst und der Verständigung mit anderen Kulturen“ erreichen.

Wie schwer dieser Dialog wird, dafür hat der Streit um Annemarie Schimmel einen Vorgeschmack geliefert. In ihm hat sich die große alte Dame der Orientalistik keineswegs als „Vermittlungsgenie“ (so der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Frühwald) erwiesen. Daß ausgerechnet der Nicht-Orientalist Bundespräsident Roman Herzog seiner Reisebegleiterin nach Pakistan die intellektuelle Schirmherrschaft aufspannen und den interkulturellen Diskurspfadfinder spielen muß, zeigt, wie schlecht gerüstet wir dafür sind. Herzog mußte aussprechen, was man von der Fachfrau erwartet hatte: eine Verurteilung der Fatwa und eine Initiative für den westlich-islamischen Dialog. Mit ihrem Schweigen zu Rushdie bestärkte Annemarie Schimmel hingegen den Eindruck einer gefährlich unpolitischen Kulturwissenschaft und qualifizierte sich als falsche Preisträgerin.

Die darüber zu Recht aufgeflammte Menschenrechtsbataille droht inzwischen das wichtigste Problem ins Abseits zu drängen. Für die Unesco steht hinter dem islamischen Fundamentalismus samt Chomeinis Fatwa die hochentwickelte Angst der islamischen Kultur, ihre kulturelle Authentizität in einer umbrechenden Welt zu verlieren. Gibt es, so gilt es zu fragen, einen Dialog, der dem Islam in einem krisenreichen Übergang aus der Stagnation helfen, an nichtkoloniale, kulturelle Quellen anknüpfen und gemäßigte Kräfte stärken kann?

Schade, daß sich eine wegen ihres immensen Wissens über das kulturelle Herz dieser Zivilisation für diese Aufgabe wichtige Wissenschaftlerin wie Schimmel selbst so diskreditiert. Denn in einem großen wissenschaftlichen Werk hatte sie Poesie und Kalligraphie einer zwar nicht säkularen, aber doch sozialkritischen Volksfrömmigkeit dem Weltkulturerbe gesichert. Die Sufi-Mystik ist ein faszinierendes Beispiel zivilisatorischen Werdens durch Sprache und Ästhetik.

Ob diese religiöse Antiorthodoxie Chancen für antifundamentalistischen Freiraum im Islam heute bietet – darüber wird zu streiten sein. Ihre Themen – der Zwiespalt zwischen intuitiver und diskursiver Erkenntnis, die Suche nach einer Sprache der Erfahrung – sind von neuer Aktualität. Zwar ist das erotische Sufi-Märtyrertum, die Freude zu sterben, um eins mit Gott zu sein, auch Vorbild für die Todesbereitschaft fundamentalistischer Mordbanden. Wie wichtig aber eine ernsthafte Erörterung dieser Fragen wäre, zeigt auch unsere anschwellende sozialwissenschaftliche Diskussion um eine neue Aktualität von Askese, wie sie die Sufis pflegten. Auch daß die Sufi-Ziele von der Unmittelbarkeit zu Welt und Natur wieder attraktiv werden, muß man als Indiz für die Verlustseiten des Prozesses unserer Zivilisation werten.

Mag sein, daß Börsenvereins- Juroren wie Hans Maier und Wolfgang Frühwald mit der traditionell bis romantisch gestrickten Preisträgerin eine Chance wittern, die kulturelle Hegemonie der „Religionsverächter“ bei uns zu durchbrechen. Trotzdem besäße die bedeutende Übersetzerin Tausender islamischer Verse mit dieser Fähigkeit bessere Voraussetzungen für den interkulturellen Dialog als mancher Standortkrieger oder kolonialer Kulturrambo aus der nuklearen Steinzeit.

So hartnäckig, wie dieser Tage falsche Vorwürfe gegen Schimmels Werk nachgeechot werden, wird man als Linker das beklemmende Gefühl nicht los, daß sich unter die berechtigte moralische Kritik die Sehnsucht der verunsicherten Linken mischt, sich an einem Feindbild zu kräftigen. Aber Annemarie Schimmel taugt nicht als fundamentalistische Bösewichtin. Wie werten die Unterstützer des Offenen Briefes Schimmels Aufsatz von 1967 „Weltpoesie ist Weltversöhnung“? Mit den Worten des Poeten und Orientalisten Friedrich Rückert beruft sie sich darin auf ein universalistisches Dialogprinzip. Diese poetische Methode kann man belächeln, wenn man sieht, wie der realexistierende Islam die Messer zückt. Aber sie ist nicht die der Mullahs, wie die Vorurteilslese mit Recherche verwechselnde Emma meint, sondern ein ziviler Ansatz.

Wenn etwas Zweifel an ihrer Friedenspreis-Befähigung weckt, dann, wie sie ihrer eigenen Idee widerspricht. Denn die „geistige Freiheit“ für die Muslime heute, die sie mit ihrer Pflege der antiorthodoxen und antietatistischen Sufi-Mystik freilegen will, soll offenbar nur selektiv gelten. Woher rührt die rigide Abwehr der asketischen Wissenschaftlerin gegen die provokativ-erotische, poetische Moderne wie Rushdie und Nasrin? Woher ihre Nähe zu den Potentaten? Wenn schon Schimmel selbst nicht auf das Reformwunder eines „islamischen Luther“ hofft. Gehört zum poetischen Dialog dann nicht gerade der mit nichtreligiösen Strömungen? Und wird ihr duldsames Warten auf eine spirituelle Selbsterneuerung des Islam nicht langsam untragbar, so wie die poetischen Akteure in den islamischen Ländern planmäßig ermordet werden?

Mir war das hohe Pathos des Frankfurter Friedenspreises mit seinen makellosen Friedenshelden immer verdächtig. Es wäre nichts gegen eine Friedenspreisträgerin einzuwenden, die spät dazulernt. Die Weigerung der iranischen Regierung, etwas gegen die Todes- Fatwa gegen Rushdie zu unternehmen, ist die klassische Stunde von Friedenspreisträgerinnen. Aussitzen bis Oktober reicht nicht. Roman Herzogs riskante Intervention kann Schimmel nicht aus der Verantwortung entlassen, vernehmbarer als bisher für die Voraussetzung jedes Reformdialogs einzutreten. Die Freiheit des poetischen Wortes. „Ich schätze Ihre Meinung nicht, aber ich werde mein Leben daran setzen, daß Sie sie sagen dürfen“, hat der Philosoph Voltaire vor gut 200 Jahren gesagt. Daß Schimmel den Weltpoeten Voltaire nicht nur als Fußnote, sondern als verinnerlichte Haltung kennt, sollte sie nicht nur beim Staatstee mit Zia ul-Haq und erst unter öffentlichem Druck zeigen. Welchen Menschen, welchem Islam, so muß sich die Gelehrte fragen lassen, nützt ihre Empathie mit der gemäßigten Mystik der Sufis, wenn sie so leise tritt? „Wer hier schweigt“, so zürnte kürzlich der Nestor des afghanischen Theaters, der 70jährige Regisseur Ustad Bisad, mit Blick auf die Vernichtung der Kultur durch die Fundamentalisten in seinem Land, „macht sich verächtlich vor seinem Schöpfer.“