Sanssouci: Vorschlag
■ „Ich übertanze euch“ – Jacalyn Carley bei den Festwochen
Marina Zwetajewa und Ossip Mandelstam, Walter Benjamin und Victor Skloski haben sich seiner als Tänzer erinnert. In Vorträgen soll er seine Gedichte getanzt, bei Debatten die Gedanken seiner Gegner gar „übertanzt“ haben: Andrej Belj, zentraler Theoretiker und Dichter des russischen Symbolismus, Anhänger von Rudolf Steiner und während seiner Berliner Jahre 1921 bis 1923 dem Foxtrott-Fieber völlig erlegen, hatte den Rhythmus nicht nur im Blut, sondern auch im Geist. Seine Sprachexperimente, in denen er mystische Traditionen mit poetischen Formen der Moderne verband, haben, so die Choreographin Jacalyn Carley, „eine musikalische Struktur“. So ist es nicht verwunderlich, daß sich die Mitbegründerin und Leiterin der Berliner Tanzfabrik von der Dichtung und der Person Andrej Belj zu einem Tanzstück inspirieren ließ – ist sie doch für ihre eigenwilligen Symbiosen von Literatur und Tanz bekannt.
„Ich übertanze euch“, koproduziert mit der Komischen Oper, uraufgeführt im Rahmen der Festwochen „Berlin Moskau/Moskau Berlin“, findet an einem ungewöhnlichen, dem Dichter angemessenen Ort statt: Der Ruine der Klosterkirche am Alexanderplatz. Sitzplätze gibt es nicht, das Publikum bewegt sich frei durch den eindrucksvollen Innenraum der ehemaligen Kirche, ebenso die sechs Tänzer. Eine Nonne und ein Gelehrter, eine Tänzerin und ein Bauer balancieren auf Mauerresten, hängen vom Geländer des Seitenschiffs, nehmen sich pathetisch in die Arme und wenden verschwärmt die Augen gen Himmel: Lebendig gewordene, ironisch vorgeführte Figuren aus Beljs Jugendwerk „Die zweite Symphonie, die Dramatische“. Der Dichter selbst wird verkörpert von einem prominenten Sprecher: Hanns Zischler schiebt sich mit seinem Rednerpult durch die Menschen. Er dirigiert die seiner Phantasie entsprungenen Figuren – und hat letzten Endes doch keine Macht über sie. Als alternder Foxtrott- Tänzer wird er von seinem Alter ego, einem jugendlichen Tänzer, mitgeschleift – eine Begegnung von Wunsch und Realität: Ein Körper, der sich selbst zu alt geworden ist, sehnt sich nach jugendlicher Spannkraft und Unruhe.
„Ich übertanze euch“ ist die erste Koproduktion der Komischen Oper mit einer freien Berliner Gruppe, weitere sollen folgen. Der Eindruck eines gelungenen Auftakts bleibt ein wenig diffus: Statt der erwarteten 100 waren mehr als 300 Zuschauer gekommen. Der Blick auf das Geschehen war so über weite Strecken verstellt. Michaela Schlagenwerth
Heute 15 Uhr, morgen 13 Uhr. Klosterkirche, Klosterstraße
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