Konsum-Metropole des Nahen Ostens

In Beirut wirkt Baulärm beruhigend, denn er signalisiert, daß es bergauf geht. Noch stehen im alten Stadtzentrum unzählige Kriegsruinen, doch daneben entsteht postmoderne Glasarchitektur  ■ Von Björn Blaschke

„Das Herz der Stadt schlägt im älteren Stadtteil, in den Straßen, die von der St.-Georges-Bucht bergan steigen, ebene Straßen kreuzen und zum Bab Edriss, zur Place Riad Solh, zur Place des Martyrs führen.“

So beschrieb der Merian-Reiseführer 1966 das alte Stadtzentrum von Beirut. Damals waren die Händler in den von Gold glänzenden und nach orientalischen Gewürzen duftenden Bazaren, „Souks“ genannt, das Symbol für die Wirtschaftskraft des Libanon, der „Perle des Orients“. Vor 20 Jahren dann, genau am 13. April 1975, brach der libanesische Bürgerkrieg aus, und kurz darauf lagen die Souks in Trümmern.

Mit einem Open-air-Konzert vor über 35.000 Libanesen hat Fairouz, die berühmteste libanesische Sängerin, im vergangenen September den Startschuß zum Wiederaufbau des alten Beiruter Stadtzentrums gegeben. Innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre will die Aktiengesellschaft „Solidaire“ mit ihrem Projekt City Center für rund 4,2 Milliarden US-Dollar das Herz von Beirut wieder zu einer glitzernden Metropole machen – mit Geschäften und Banken. Gleichzeitig soll das Zentrum, das mehr als fünfzehn Jahre lang Schlachtfeld der Warlords war, zum religiösen Schmelzpunkt des Libanon werden.

Das ist jedoch Zukunftsmusik. Noch stehen im alten Stadtzentrum unzählige der Kriegsruinen, die von rotgrauen Bauzäunen eingefriedet sind. Den Blick auf die alte Oper verdeckt eine gigantische Plakatwand, die zeigt, was einmal werden soll: Rekonstruierte Hochhäuser und postmoderne Glasarchitektur – ausgespachtelte, übertünchte Geschichte; Manhattan am Mittelmeer. Da, wo einst das Rivoli, einer der größten Kinopaläste des Orients, stand, ist der Asphalt des Place des Martyrs aufgerissen, und die braune, sandige Erde liegt nackt da. Die Märtyrer-Statue, die an das Ende des französischen Kolonialismus im Libanon erinnert, ist mit Gedenkblumen geschmückt. Ihre Bronze ist noch immer von Geschossen gezeichnet. Bisher wurden nur um den Sockel der Statue herum neue Steinplatten verlegt. Auf ihrer glatten Oberfläche drehen libanesische Jugendliche mit Skateboards oder Inlinern ihre Runden, während sich die Planierraupen immer weiter ihren Weg durch die Trümmer der jüngsten libanesischen Geschichte bahnen.

Manchmal weht der Wind den Lärm der Baumaschinen zum Yachtclub in der St.-Georges- Bucht hinunter. Aber abgesehen von den wenigen westlichen Touristen, die sich hierher verirren, stören die Maschinen keinen der Gäste, die in den Sonnenstühlen liegen. Auf die Libanesen wirkt der Baulärm beruhigend, denn die Motoren zeigen, daß es fünf Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs mit Beirut langsam wieder aufwärts geht. Solange die Motoren arbeiten, kann sich die libanesische High-Society im St. Georges- Yachtclub beruhigt zum Champagner treffen, über Import-Export- Geschäfte und den Wert der libanesischen Lira diskutieren.

Der 1938 gegründete St.- Georges-Yachtclub liegt im Stadtteil Ain-m-Rasi, dem alten Hotelviertel Beiruts. Neben dem Yachthafen stehen die Häuser, die dem Viertel seinen Namen gegeben haben: das St.-Georges-Hotel, das Phoenicia, das Holiday Inn. Sie sind im Gegensatz zum Yachthafen selbst nur noch Ruinen, Beton- Gerippe. Das jahrelange Maschinengewehrfeuer hat die Wände der Häuser aufplatzen lassen. Ein Einschußloch liegt neben dem anderen; Stanzmarken im Beton. Kein Fensterglas ist mehr an seinem Platz, statt dessen: freier Blick in die Hotelzimmer – schwarze Löcher in staubiger Hitze. In eineinhalb Jahren soll auch dieses Viertel neu erblühen, die Hotels sollen wiedereröffnet werden. „Insch'allah, fakat min-schuf“ – „so Gott will, aber man wird sehen“, zweifelt der Besitzer des einzigen Souvenir-Shops und blickt dabei auf seine T-Shirts mit der Aufschrift „I love Lebanon“. Noch sind keine Aufräumtrupps zu sehen, geschweige denn Bauarbeiter, noch hausen in den Suiten Soldaten in Tarnanzügen auf Feldbetten. Sie sollen verhindern, daß Terroristen Unterschlupf in den Ruinen suchen; Kalaschnikow statt Kaviar und Kokain.

Der Rest der Stadt ist relativ unzerstört, obwohl die schrecklichen Fernsehbilder, die uns zwischen 1975 und 1990 Tag für Tag präsentiert worden sind, anderes vermuten ließen. Bis das Hotelviertel Ain-m-Rasi und das neue Fünfsternehotel, das die Holiday-Inn- Gruppe im Süden Beiruts errichten will, fertig sind, müssen Reisende allerdings noch mit weniger luxuriösen Herbergen vorliebnehmen. Sie können für 70 bis 100 Dollar pro Nacht in einem der vielen Mittelklassehotels absteigen, die nicht weit von Ain-m-Rasi entfernt an der Corniche, der Küstenpromenade, oder in der Nähe der al- Hamra, der Beiruter Einkaufsstraße, liegen. Wer Selbstversorger ist, hat auch die Möglichkeit, ein möbliertes Appartement zu mieten, im Beiruter Nobelvorort Jounieeh beispielsweise – Strandblick und Cocktailverpflichtungen unter flüsternden Palmen inbegriffen.

Zumeist sind es noch Geschäftsleute, die in die libanesische Hauptstadt kommen. In den Straßencafés der Hamra, dem „Modka“ oder dem „Café de Paris“, blättern vereinzelt aber auch schon wieder Touristen in ihren Reiseführern. Seit diesem Jahr gibt es zwei in deutscher Sprache, weshalb Landsleute auch besonders schnell an ihrem „Marco Polo“ oder dem „Libanon Reisehandbuch“ zu erkennen sind. Manchmal sind es Individualurlauber, meistens aber Mitglieder von Reisegruppen, die während einer Rundfahrt durch die Levante für drei oder vier Tage auch den Libanon besuchen. Von Syrien aus kommen sie aus dem Norden, wo sie die Tempelanlagen von Ba'albek besichtigt haben. Deren Schönheit wird im Nahen Osten wohl nur noch von der jordanischen Felsenstadt Petra übertroffen. Oder sie kommen von Westen – auch aus Syrien, aber über Byblos, das für den Reschefttempel berühmt ist. Aus welcher Richtung auch immer die Touristen in den Libanon kommen, wenn sie das antike Tyros und die Kreuzritterburg von Sidon besichtigt haben, suchen sie am Ende ihrer Rundreise doch wieder Weltlich-Gegenwärtiges. Das finden sie im heutigen Beirut – und eigentlich nur das, denn alle historischen Museen sind nach wie vor geschlossen.

Nach dem Krieg wurde Beirut schnell wieder zu dem, was es schon in den 50er und 60er Jahren war: Eine Konsum-Metropole im Nahen Osten. Schon während des Krieges gab es – dem Hafen und den Schwarzmarkthändlern sei Dank – nur selten Mangel an Luxusgütern. Heute jedoch werben mehr als 50 UKW-Sender für das angenehme Leben. Sie senden rund um die Uhr Werbespots für die Modegeschäfte der Hamra – mit Designerkleidung von Yamamoto und Miyake; dem Feinkostladen „Goodies“ auf der Rue Verdun, der neuesten Computertechnik, Billig-Trips nach New York.

Das Beiruter Leben pulsiert, und wer daran teilhaben will, muß zahlen – wahlweise libanesische Lira oder US-amerikanische Dollar – auf jeden Fall aber viel! Die Inflation hält an, weil das Kapital des Landes nach wie vor in den Händen einiger weniger Libanesen liegt, die durch Spekulationen den Immobilienmarkt an sich gerissen haben. Die Folge ist, daß die Mieten und Grundstückspreise Dimensionen wie in New York erreicht haben, während der monatliche Mindestlohn bei 172 Dollar im Monat liegt. Weil die Kluft zwischen arm und reich größer wird, müssen sich immer mehr Menschen eine wirtschaftliche Nische suchen. Die liegt häufig in der Grauzone zwischen legaler und illegaler Arbeit. So ist es kaum verwunderlich, daß besonders das Nachtleben Beiruts expandiert. Vereinzelt lockt das zwar schon junge westliche Reisende an, doch noch ist das Nachtleben der libanesischen Hauptstadt vorrangig ein Ziel des arabischen Tourismus. In ihren eigenen Heimatländern religiösen und traditionellen Tabus ausgesetzt, bummeln tagsüber wohlsituierte Saudis oder Syrer durch die edlen Geschäfte des muslimischen Westens, speisen in den Restaurants und Fast-food- Shops. Nachts aber treibt es sie in den christlichen Osten der Stadt, nach Aschrafiyya oder Hazmiyya. Bordelle, Nightclubs, Alkohol, Drogen – „misch muschkila“ – „kein Problem“, wenn man das nötige Kleingeld hat. Ein Bier kostet sechs bis sieben Dollar.

Wem diese Art des Vergnügens zu einseitig ist, dem bleiben auch noch andere Möglichkeiten: das „Blue Note“ zum Beispiel, dessen Kellner behaupten, ihr Jazz-Club sei mindestens so alt wie das gleichnamige Platten-Label. Wer es US- amerikanisch liebt, der besucht Erlebnisrestaurants wie das „Henry- J.-Beans“ oder den „Lonely-Star- Club“. Nachts ist auf jeden Fall ein Besuch im „B-018“ ein absolutes Muß. Früher ein grauer Flugzeug- Hangar, heute eine großräumige Disco. Rote Lampions, kalter Steinboden, Portraits von jungen Beirutis, die ihre Szene leben und lieben, an der Wand – getanzt wird bis zum Morgen.

Nein, fünf Jahre nach dem Bürgerkrieg ist Beirut schon lange nicht mehr gefährlich. Gefährlich sind nur die Ruinen, die Trümmertouristen zum Verhängnis werden können, und der Autoverkehr. Der allerdings verringert die Lebenserwartung. Die Auspuffrohre der zum Teil schrottreifen Autos – vorwiegend 200er Mercedes – und die Kessellage der Hafenstadt Beirut sorgen für das typische Klima der „Perle des Orients“: Hohe Luftfeuchtigkeit, die die Abgase wie unter einer Käseglocke konzentriert.

Ein Mittel gegen Schweißausbrüche sind die Strände der Raouché, der Verlängerung der Corniche – am besten einer, der schon aufgeräumt ist. Die meisten Strandpassagen bestehen weniger aus Sand als aus Müll. Plastiktüten und -flaschen; Autoreifen und Blechdosen, die während des Krieges achtlos beiseite geworfen wurden, sind unverrottbare Kriegszeugen. Auch sie sollen bald beseitigt werden, wann genau, weiß niemand. Die Sonnenschirmverleiher wurden jedenfalls schon vom Strand vertrieben, ebenso wie die Besitzer der alten VW-Busse von der Strandpromenade. Bei ihnen konnte man noch vor einem halben Jahr zu kalten Tee und zu warme Cola kaufen. Das allerdings hat den libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri gestört, der die Beiruter Sandstrände, in der Hoffnung, daß sie dann gepflegt werden, möglichst bald privatisieren will. Geblieben ist eigentlich nur noch der Schwimmeister. Der spricht Deutsch und rät jedem Gast davon ab, in der Nähe von Beirut schwimmen zu gehen. Warum? Er antwortet mit einem Witz: Während einer Fährfahrt von Zypern nach Jounieeh schreit plötzlich einer der Reisenden: „Der Libanon, endlich – die Heimat.“ Aufgeregt kommen die anderen Passagiere an Deck und fragen verwundert: „Wo? Es ist kein Land in Sicht.“ – „Aber“, so der Mann, „schaut nur ins Meer – da treibt schon unser Müll!“